Der unersättliche Spinnenmann
mich auf die Terrasse und sagte: »Ich ertrage meine Mutter nicht mehr, sie ist furchtbar. Eine Diktatorin.« Das ist Jahre her. Sie ist nie wieder gekommen. Als ich wieder zuhöre, erzählt meine Nachbarin von ihrem Neffen:
»Er hat mich dieser Tage drei-, viermal angerufen und meint, dass er sich umbringen will, weil es sich nicht mehr lohnt zu leben.«
»Warum das denn?«
»Man hat ihm ein Bein abgenommen, da ist er depressiv geworden und hat seine Frau rausgeschmissen. Jetzt lebt er allein und hat pechschwarze Gedanken.«
Das gefiel mir: »pechschwarze Gedanken«. Darauf war ich noch nie gekommen.
»Er ist noch jung, erst siebenundfünfzig.«
»Wie?«
»Jung ist er noch.«
»Ah, ja.«
»Ich muntere ihn auf und sage ihm, dass er doch noch jung ist. Um ihm Mut zu machen, aber mit einem Bein weniger … das ist schon beschissen. Und er trinkt immer weiter.«
Ich dachte weiter an die »pechschwarzen Gedanken«. Ich hätte Lust, das Innenleben von dem Typen kennen zu lernen. Herauszufinden, wie diese Gedanken sind.
»Er sagt, sie sei oft ausgegangen und habe einen anderen Mann gehabt, seit er zum Invaliden wurde. Er wurde eifersüchtig und verbittert.«
»Warum hat man ihm das Bein abgenommen?«
»Hab ich dir doch schon gesagt: Diabetes. Und trotzdem trinkt er weiter. Wenn er zu trinken aufhören würde, könnte er sein Leben wieder hinkriegen.«
»Wenn er jeden Tag hart trinkt, dann kann er gar nichts hinkriegen.«
»Ach, Söhnchen, sag doch so etwas nicht.«
»Nein, nein, ich meine nur …«
»Es stimmt, ich weiß ja, dass es so ist. Aber ich kann ihm doch den Mut nicht nehmen. Die Familie ist vom Unglück verfolgt. Seine Mutter liegt gelähmt im Bett. Die Tante hat eine schwere Schizophrenie und reagiert nur auf Elektroschocks, mein anderer Bruder …«
»Es heißt, dass jeder die Krankheiten hat, die er verdient.«
»Das glaub ich nicht. Meine Familie ist sehr gut und großherzig. Und du siehst ja, wie alles in die Brüche geht.«
Es war unmöglich, sie zu stoppen. Wenn sie einmal mit dem Lamentieren angefangen hat, ist sie nicht auszuhalten. Ich trank den Kaffee. Mir macht es mehr Spaß, mich mit ihr zu unterhalten, wenn sie mir von den CIA-Agenten erzählt, die in diesem Gebäude wohnten, und von dem Funkgerät, das sie im Keller versteckt hatten. Manchmal erzählt sie mir auch von den Spionageoperationen, an denen sie teilnahm, als sie beim Geheimdienst war. Sie brachte es dort bis zum Hauptmann. Ab und zu wird sie redselig und sagt:
»Ich habe Millionen Dollars gezählt. Das war alles sehr geheim, aber ich wusste, dass dieses Geld für bla, bla, bla …«
Oder wie sie in den fünfziger Jahren Dienstmädchen und Köchin im Haus einer ehemaligen Nazi-Spionin war und wie man die 1953 ermorden wollte, und sie rettete sie, weil sie nicht zur Komplizin werden wollte. Die Deutsche war die Geliebte von Tschiang Kaischek und Spionin an seinem Hof gewesen, in Formosa. Irgendwann einmal werde ich einen Roman schreiben über die Abenteuer meiner Nachbarin. Aber alles zu seiner Zeit. Jetzt könnte ich dafür zu schnell als Ketzer auf dem Scheiterhaufen rösten. Und das geht nicht. Ich muss meine Haut schonen.
Heute ist sie wirklich zu depressiv. Das ist ansteckend. Ich stand auf, um zu gehen, aber sie hält mich noch einmal zurück, um mir von einem Eisenbahnunglück zu erzählen, das gestern passiert ist und bei dem ein sehr bekannter Sänger ums Leben gekommen ist. Sie weiß in allen Einzelheiten, wie viele Tote und wie viele Schwerverletzte und so weiter.
Schließlich schaffe ich es zu gehen. Manchmal bewundere ich sie wegen ihrer ungeheuren Widerstandskraft. Sie ist unheimlich stoisch. Sie lebt wie eine Nonne im Kloster, von zehn Dollar Rente im Monat. Und hält aus. Ich schließe meine Wohnung gut ab und fahre nach El Calvario. Seit über einem Monat habe ich meine Mutter nicht mehr gesehen. In den letzten Tagen hat sie mich mehrmals unter irgendeinem Vorwand angerufen. Das bedeutet, dass sie unruhig ist und mich sehen und ein bisschen mit mir reden muss.
Zwei Stunden später bin ich bei ihr. Und die Sache wiederholt sich. Heute ist der Tag der lebenden Toten und der unlösbaren Tragödien. Als Erstes macht sie eine Inventur der Apokalypse unter den Nachbarn: der Lastwagenfahrer von gegenüber, den die Frau verlassen hat und dessen Abstieg unaufhaltsam ist. Er hat keine Arbeit mehr und trinkt den ganzen Tag. Die alte Negerin von nebenan mit der steinharten Leber und dem geschwollenen Leib. Das
Weitere Kostenlose Bücher