Der unmoegliche Mensch
hinter den Dünen.
Ein wenig tiefer als die Terrasse lag der Strand, über und über bedeckt von einer Menschenmenge, liegenden und sitzenden Gestalten, vom Wasserrand bis hinauf zur Straße hinter dem Cafe und über die Dünen hinweg. Kein einziges Sandkorn war zu sehen. Sogar an der Flurkante, wo seichtes Wasser träge mit leeren Zigarettenschachteln und anderem Abfall spielte, hielt sich eine Schar Kinder auf und verdeckte den grauen Sand.
Als er wieder auf den Strand hinuntersah, wurde Pelham klar, daß das wenig nette Urteil seiner Frau durchaus zutraf. Überall ragten nackte Schenkel und Schultern in die Luft. Trotz des Sonnenscheins und der beträchtlichen Zeitspanne, die sie am Strand verbracht hatten, waren viele der Leute noch weiß oder bestenfalls rosarot wie gekochter Schinken. Ruhelos änderten sie dauernd ihre Lage, in dem vergeblichen Bemühen, Bequemlichkeit zu finden.
Normalerweise hätte dieser Anblick von zuckenden entblößtem Fleisch mit seinem widerlichen Geruch nach ranzigem Hautöl und Schweiß ihn veranlaßt, sofort die nächste Straße landeinwärts zu brausen. Aber aus irgendeinem Grund war Pelhams sonstige Abneigung gegen Menschenansammlungen verflogen. Er fühlte sich merkwürdig angeregt und war nicht imstande, die Terrasse zu verlassen, obwohl es schon drei Uhr war und weder er noch Mildred seit dem Frühstück etwas gegessen hatten. Hätten sie ihre Eckplätze erst einmal aufgegeben, hätten sie sie nie wieder zurückbekommen.
Im stillen mußte er denken: »Die Eisesser am Echostrand…« Er spielte mit dem vor ihm stehenden leeren Glas. Stückchen von synthetischem Orangenfleisch klebten an seiner Innenwand, eine Fliege flog lustlos von einer Seite zur andern. Die See war eben und ruhig, eine graue Scheibe, aber etwa zwei Kilometer weit draußen lag eine niedrige Nebelschicht über dem Wasser.
»Dir scheint heiß zu sein, Roger. Warum gehst du nicht baden?«
»Werde ich vielleicht tun. Weißt du, es ist komisch, aber von all den Menschen hier ist keiner im Wasser.«
Mildred nickte gelangweilt. Sie war eine dicke, passive Frau, der es vollauf zu genügen schien, einfach in der Sonne zu sitzen und zu lesen. Und doch war sie es gewesen, die vorgeschlagen hatte, an die Küste zu fahren, und sie hatte diesmal sogar ihr übliches Genörgel unterdrückt, als sie auf der verstopften Straße steckenblieben und den Wagen verlassen mußten, um die letzten drei Kilometer zu Fuß zu gehen. Pelham hatte sie schon zehn Jahre nicht mehr so laufen sehen.
»Recht merkwürdig«, sagte sie. »Aber es ist auch nicht besonders warm.«
»Der Meinung bin ich nicht.« Pelham wollte gerade weitersprechen, als er plötzlich aufstand und über das Geländer auf den Strand starrte. Unten, etwa in der Mitte des Sandstreifens, bewegte sich ein ununterbrochener Strom von Menschen. Auf einem Trampelpfad parallel zur Promenade quetschten sie sich langsam mit frischen Colaflaschen, Hautöl und Eis aneinander vorbei.
»Roger, was ist?«
»Nichts – ich meinte Sherrington gesehen zu haben.« Pelham suchte den Strand ab, aber der flüchtige Augenblick des Erkennens war vorbei; er fand ihn nicht mehr.
»Du siehst immerzu Sherrington. Das ist schon das viertemal heute nachmittag. Sorg dich doch nicht so!«
»Ich sorge mich nicht. Ich bin mir nicht sicher, aber ich meinte, ich sah ihn eben.«
Widerstrebend setzte sich Pelham wieder und rückte seinen Stuhl näher ans Geländer. Trotz seiner Lethargie und der gähnenden Langeweile beherrschte ihn schon den ganzen Tag ein undefinierbares Gefühl der Unruhe. Irgendwie hatte die Anwesenheit Sherringtons am Strand diese Unruhe noch stetig verstärkt. Daß Sherrington – mit dem er ein Büro in der Physiologieabteilung der Universität teilte – gerade diesen Strandabschnitt wählen sollte, war sehr unwahrscheinlich, und Pelham wußte selbst nicht, warum er von seiner Anwesenheit so überzeugt war. Vielleicht waren diese flüchtigen Erscheinungen – denen man noch weniger trauen konnte, wenn man Sherringtons schwarzen Bart, sein langes, ernstes Gesicht und seinen gebeugten Gang in Betracht zog – nur Projektionen seiner nervösen Spannung und merkwürdigen Abhängigkeit von Sherrington.
Das Unruhegefühl war jedoch nicht auf ihn allein beschränkt. Mildred schien zwar immun zu sein, aber die meisten anderen Menschen am Strand schienen von dem gleichen Gefühl erfaßt zu sein wie Pelham. Im Laufe des Tages wurde das gleichmäßige
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