Der unmoegliche Mensch
Welle von Unruhe über den Strand. Vielleicht war es eine Reaktion auf den Höhepunkt des Countdowns, den die Kommentatoren von Kap Kennedy verkündeten. Pelham beobachtete das Sonnenlicht, das von den verchromten Radiogeräten und den funkelnden Sonnenbrillen reflektiert wurde, während der ganze Strand in schiebender und stoßender Bewegung war. Der Lärm hatte merklich nachgelassen; man konnte die Musik von der Wurlitzer-Orgel auf dem Rummelplatz hören. Überall herrschte die gleiche erwartungsvolle Unruhe. Pelham hielt in dem grellen Licht die Augen halb geschlossen, und der Strand erschien ihm wie eine riesige Grube voll sich windender, weißer Schlangen.
Irgendwo schrie eine weibliche Stimme. Pelham beugte sich vor und suchte die Reihen der mit Sonnenbrillen maskierten Gesichter ab. Es lag etwas in der Luft, eine ungemütliche, fast finstere Andeutung von Gewalttätigkeit, die unter der Oberfläche verborgen lag.
Allmählich aber legte sich die Bewegung wieder. Die Menge entspannte sich, ölig leckten kleine Wellen um die ausgestreckten Füße der am Wasserrand liegenden Leute. Von einer der Dünungswellen weiter draußen angetrieben, wehte ein leichtes Lüftchen über den Strand heran und brachte den süßlichen Geruch von Schweiß und Hautöl mit. Pelham wandte sein Gesicht ab und spürte, wie ihm Übelkeit die Kehle zuschnürte. Ohne Zweifel, dachte er, bietet der Homo sapiens en masse einen unappetitlicheren Anblick als die meisten Tierarten. Pferde oder Ochsen in einem Gehege bieten einen Anblick voll kraftvoller, feinnerviger Anmut, aber diese Masse von sprechendem Albinofleisch, die hier am Strand herumlag, ähnelte der krankhaften Phantasie eines surrealistischen Malers. Warum hatten sich all diese Leute hier versammelt? Die Wetterberichte waren nicht besonders günstig gewesen. Der größte Teil der Nachrichten war dem bevorstehenden Satellitenstart gewidmet gewesen, dem letzten Baustein in dem weltweiten Nachrichtennetz, das nun jeden Quadratmeter auf dem Globus eine geradlinige Sichtverbindung mit einem der über zwanzig kreisenden Satelliten bieten sollte.
Pelham rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her und merkte plötzlich, daß ihn die Kante des metallenen Tisches in die Ellbogen schnitt. Der billige Lattensitz war sehr unbequem. Wieder hatte er das merkwürdige Gefühl, als würde etwas Schreckliches passieren. Er sah zum Himmel hinauf und erwartete beinahe, ein Verkehrsflugzeug aus dem Dunst herausstürzen und auf dem übervölkerten Strand vor ihm zerschellen zu sehen.
Zu Mildred gewandt sagte er: »Es ist erstaunlich, wie beliebt Sonnenbaden werden kann. In Australien war es vor dem Zweiten Weltkrieg ein schweres gesellschaftliches Problem.«
Mildred sah kurz von ihrem Buch auf. »Vielleicht gab es sonst nichts zu tun.«
»Das ist es ja gerade. Solange die Leute sich damit begnügen, die ganze Zeit irgendwo am Strand zu liegen, besteht wenig Hoffnung, je andere Freizeitbeschäftigungen in Gang zu bringen. Sonnenbaden ist gesellschaftsfeindlich, weil es ein völlig passiver Zeitvertreib ist.« Er senkte seine Stimme, als er merkte, daß sich die Leute in seiner Nähe, durch seine präzise Diktion aufmerksam geworden, umsahen und lauschten. »Andererseits bringt es die Menschen einander näher. Nackt – oder halbnackt – ist ein Ladenmädchen von einer Gräfin praktisch nicht zu unterscheiden.«
»Wirklich nicht?«
Pelham zuckte die Achseln. »Du weißt, was ich meine. Aber ich glaube, die psychologische Rolle des Strandes ist viel interessanter. Die Flutkante hat ihre ganz besondere Bedeutung. Sie ist eine penumbrale Zone. Sie gehört zum Meer und liegt doch höher, für immer halb eingetaucht in den großen Schoß der Zeit. Wenn man das Meer als eine Verkörperung des Unbewußten akzeptiert, kann man diesen Drang zum Strand vielleicht als einen Versuch ansehen, der existentiellen Rolle im gewöhnlichen Leben zu entfliehen und in das universale Zeitmeer zurückzukehren…«
»Roger, bitte!« Mildred wandte sich angeödet ab. »Du redest wie Charles Sherrington.«
Pelham starrte wieder hinaus aufs Meer. Unter ihm verkündete ein Radiosprecher Position und Geschwindigkeit des erfolgreich gestarteten Satelliten und seine Bahn um die Erde. Spaßeshalber rechnete Pelham aus, daß er etwa fünfzehn Minuten brauchen würde, um sie zu erreichen; fast genau um halb vier also. Natürlich würde er vom Strand aus nicht zu sehen sein, obgleich Sherrington in seiner
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