Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der unmoegliche Mensch

Der unmoegliche Mensch

Titel: Der unmoegliche Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. G. Ballard
Vom Netzwerk:
des Kompasses, als ein riesiges weißes Gesicht mit einem spitzen Schnabel sich ins Bild schob. Als er diese Erscheinung anstarrte, entfaltete sich hinter ihm, scheinbar von seinen Schultern aus, ein immenses Flügelpaar. Dann hob sich eine große sanfte Taube, von einem Blitz kurz beleuchtet, vom Mast in den böigen Wind. Ihre Flügel verhedderten sich in den Stahlkabeln. Sie flatterte noch dort, wo sie Schutz vor dem Regen suchte, als Crispin auf das Deck hinaustrat und ihr ins Herz schoß.
     Im ersten Morgenlicht verließ Crispin das Ruderhaus und kletterte auf das Dach. Der tote Vogel hing mit ausgestreckten Flügeln in einem Gewirr von Stahlseilen neben dem Krähennest. Sein trauriges Gesicht glotzte zu Crispin herab. Der Ausdruck hatte sich kaum geändert, seit es mitten im Gewitter hinter seinem eigenen Spiegelbild aufgetaucht war. Jetzt, da der Wind nachließ, beobachtete Crispin das Haus unter dem Kliff. Gegen die dunkle Vegetation in dem Wiesen- und Sumpfgelände hing der Vogel wie ein weißes Kreuz am Mast, und Crispin wartete darauf, daß Catherine York an ein Fenster kommen würde. Er fürchtete, daß ein plötzlicher Windstoß die Taube herunterreißen und auf das Deck fallen lassen konnte.
     Als Quimby zwei Stunden später in seinem Kahn ankam und den Vogel sehen wollte, schickte Crispin ihn auf den Mast, um die Taube an der Saling festzubinden. Der Zwerg tanzte unter dem Vogel umher, er schien von Crispin mesmerisiert zu sein, er tat, was ihm geheißen wurde.
     »Schieß mal hinüber, Crisp!« feuerte er Crispin an, der betrübt an der Reling stand. »Über das Haus, da kommt sie bestimmt raus.«
     »Meinst du?« Crispin hob das Gewehr und warf die Patronenhülse aus, deren Geschoß den Vogel getötet hatte. »Ich weiß nicht… ich könnte sie erschrecken. Ich werde hinüberfahren.«
     »Das ist richtig, Crisp…« Der Zwerg rannte umher. »Bring sie mit hierher – ich räume hier für dich auf.«
     »Vielleicht mach ich das.«
     Als er mit seiner Barkasse am Strand anlegte, blickte Crispin zurück zum Vorpostenschiff und vergewisserte sich, daß die tote Taube aus der Entfernung deutlich zu sehen war. In der Morgensonne leuchtete das Gefieder wie Schnee gegen die rostigen Masten.
     Als er sich dem Haus näherte, sah er Catherine York in der Tür stehen, der Wind wehte ihr das Haar ins Gesicht. Sie sah ihm mit strengen Blicken entgegen.
     Er war noch zehn Meter von ihr entfernt, als sie ins Haus trat und die Tür halb schloß. Crispin begann zu laufen, da lehnte sie sich heraus und schrie zornig: »Gehen Sie weg! Fahren Sie zurück zu Ihrem Schiff! Zu den toten Vögeln, die Sie so lieben!«
     »Miß Catherine…« Crispin blieb verwirrt an der Tür stehen. »Ich habe Sie gerettet… Mrs. York!«
     »Gerettet? Retten Sie die Vögel, Captain!«
     Crispin wollte etwas sagen, aber sie schlug die Tür zu. Er überquerte die Wiese und fuhr über den Fluß zurück zum Vorpostenschiff, ohne zu merken, wie Quimby ihn mit seinen idiotischen Glotzaugen von der Reling anstarrte.
     »Crisp… Was ist los?« Zum erstenmal war der Zwerg sanft. »Was ist geschehen?«
     Crispin schüttelte den Kopf. Er starrte zu dem toten Vogel hinauf und mühte sich um eine Erklärung für die letzte Bemerkung der Frau. »Quimby«, sagte er mit leiser Stimme zu dem Zwerg. »Quimby, sie hält sich selbst für einen Vogel.«

    Während der nächsten Woche wuchs diese Überzeugung in Crispins verwirrtem Geist genauso wie seine Beschäftigung mit dem toten Vogel. Wie sie da so über ihm hing wie ein riesiger ermordeter Engel, schienen die Augen der Taube ihm überallhin auf dem Schiff zu folgen und erinnerten ihn daran, wie sie zuerst aufgetaucht waren, fast aus seinem eigenen Gesicht heraus, in dem spiegelnden Glas im Ruderhaus.
     Es war dieses Gefühl der Identität mit dem Vogel, das Crispin schließlich seinen Plan eingab.
     Er kletterte auf den Mast, schnallte sich am Krähennest an und sägte mit einer Handsäge die Stahlkabel durch, die sich um den Körper der Taube gelegt hatten. In dem aufkommenden Wind schaukelte und wippte der Vogel, und seine herabhängenden Flügel schlugen Crispin fast von seinem luftigen Sitz. Ab und zu wurden sie von Regen überschüttet, aber die Tropfen halfen, das Blut von des Vogels Brust und den Rost von der Säge abzuwaschen. Endlich ließ Crispin den Vogel aufs Deck hinunter und band ihn dann am Lukendeckel hinter dem Schornstein fest.
     Erschöpft schlief er bis zum nächsten

Weitere Kostenlose Bücher