Der unmoegliche Mensch
auf, die er für lange begrabene visuelle Überreste aus seiner Kindheit hielt.
Es waren diese Bilder mit all ihren quälenden Assoziationen, die Maitland am meisten fesselten. Indem er seinen Geist ins Träumen kommen ließ, konnte er sie fast nach Belieben heranholen und passiv zusehen, wie die flüchtigen Landschaften sich wie Geister aus einer anderen Welt vor seinem inneren Auge aufbauten. Besonders ein Bild, bestehend aus schemenhaft auftauchenden steilen Klippen, einem Gang aus Spiegeln und einem hohen Haus mit steilen Giebeln in der Mauer, kam immer wieder, obwohl die beziehungslosen Details nicht aus seiner Erinnerung stammten. Maitland versuchte es zu erforschen, indem er die blauen Klippen oder das hohe Haus in seinem Geist fixierte und dann wartete, daß sich die Zusammenhänge einstellten. Aber die lärmenden Möwen und das Hinundherlaufen Judiths im Garten lenkten ihn ab.
»Bis später, Liebster!«
Maitland hob seinen Stock als Antwort. Er hörte das Auto davonfahren und registrierte die leichte Veränderung des akustischen Profils des Hauses, die durch die Abfahrt entstanden war. Wespen summten in dem Efeu unter den Küchenfenstern und über den Ölflecken auf dem Kies. In der wannen Luft wiegende Bäume an der Straße dämpften Judiths letztes Schalten. Endlich waren die Möwen einmal still. Gewöhnlich hätte das Maitlands Mißtrauen geweckt, aber er lehnte sich zurück und drehte die Räder seines Rollstuhls so, daß er die Sonne im Gesicht hatte.
An nichts denkend beobachtete er, wie die Lichtkreise in seinem Geist lautlos kamen und gingen. Gelegentlich beendete die Bewegung der Weiden oder das Geräusch einer Biene, die gegen das Glas der Wasserkaraffe auf dem Tisch stieß, die Bildfolge. Diese extreme Empfindlichkeit für das leiseste Geräusch oder die kleinste Bewegung erinnerte ihn an die Überempfindlichkeit von Epileptikern oder von Tollwutopfern in ihren fürchterlichen letzten Zuckungen. Es war fast, als ob die Schranken zwischen den tiefsten Schichten des Nervensystems und der Außenwelt beseitigt worden wären, diese dämpfenden Lagen aus Blut und Knochen, Reflexen und Konventionen…
Mit einem kaum wahrnehmbaren Aussetzen des Atems entspannte sich Maitland in seinem Stuhl. Auf den Bildschirm in seinem Geist projiziert war das Bild, das er schon früher gesehen hatte, von einer felsigen Küste, deren dunkle Klippen aus einem Seenebelfeld auftauchten. Die ganze Szene war eintönig und farblos. Darüber reflektierten tiefhängende Wolken die zinngraue Wasseroberfläche. Als der Nebel sich klärte, rückte er näher an die Küste heran und sah, wie die Wellen sich an den Felsen brachen. Die Schaumkronen suchten wie weiße Schlangen zwischen den Tümpeln und Spalten nach den Höhlen, die tief in die Basis des Kliffs hineinführten.
Die einsame und verlassene Gegend ließ Maitland nur an die kalte Küste von Feuerland und den Schiffsfriedhof von Kap Hoorn denken, und nicht an irgendwelche eigenen Erinnerungen. Doch die Klippen kamen näher, bis sie hoch über ihn hinausragten, als ob ihre Wesenheit ein tief in Maitlands Geist steckendes Bild reflektierte.
Immer noch durch das dazwischenliegende graue Wasser von ihnen getrennt, folgte Maitland der Küste, bis die Klippen sich an der Mündung eines kleinen Flusses teilten. Sofort wurde das Licht klarer. Das Wasser der Mündung glühte in geisterhaftem Licht. Die blauen Felsen, die von kleinen Grotten und Gängen durchzogen waren, strahlten ein weiches Regenbogenlicht aus, als wären sie von einer unterirdischen Laterne illuminiert.
Diese Szene festhaltend, suchte Maitland die Ufer der Flußmündung ab. Die Höhlen waren leer, aber als er sich ihnen näherte, begannen die leuchtenden Bogengänge das Licht zu reflektieren wie ein Spiegelsaal. Gleichzeitig sah er sich das dunkle Haus mit den hohen Giebeln betreten, das er schon vorher gesehen hatte und das sich jetzt diesem Traum überlagert hatte. Irgendwo in dem Haus, maskiert durch die Spiegel, beobachtete ihn eine große, grüngekleidete Gestalt, während sie sich durch die Höhlen und Schluchten zurückzog…
Eine Autohupe erklang in einer fröhlichen Folge von Tönen. Der Kies knirschte unter den Reifen, als der Wagen durch die Einfahrt hereinkam. »Judith hier, Liebster!« rief seine Frau. »Alles in Ordnung?«
Leise vor sich hinfluchend, suchte Maitland nach seinem Stock. Das Bild von der dunklen Küste und der Flußmündung mit den geisterhaften Höhlen war
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