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Der unmoegliche Mensch

Der unmoegliche Mensch

Titel: Der unmoegliche Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. G. Ballard
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schließlich eine Operation erforderlich gemacht, auf die ein Monat Dunkelheit unter einem Verband folgte. Sie hatten jedoch nicht mit der gewaltigen Ausweitung seiner anderen Sinne gerechnet. Das Haus war acht Kilometer von der Küste entfernt, aber bei Ebbe kam oft ein Schwarm der gierigen Vögel von der Mündung flußaufwärts geflogen und ließ sich auf den Schlickflächen nieder, fünfzig Meter von dem Platz, an dem Maitland mitten auf dem Rasen in seinem Rollstuhl saß. Judith konnte die Vögel kaum hören, aber für Maitlands Ohren erfüllte ihr hungriges Hacken die warme Luft wie ein wilder dionysischer Chor. Er hatte eine lebhafte Vorstellung von einer nassen, vom Blut von Tausenden von zerrissenen Fischen triefenden Schlickbank.
     Ihn ohnmächtigem Ärger hörte er, wie ihre Stimmen plötzlich verstummten. Dann, mit einem scharfen Geräusch wie beim Zerreißen von Stoff, erhob sich der ganze Schwarm in die Luft. Maitland richtete sich in seinem Rollstuhl steil auf, den Stock wie einen Knüppel in der rechten Hand, und wartete halb darauf, daß die Möwen auf den stillen Rasen herunterstoßen und ihm mit ihren fürchterlichen Schnäbeln die Binde von den Augen reißen würden.
     In den vierzehn Tagen seit seiner Rückkehr aus der Klinik hatte ihm Judith vom frühen Eliot vorgelesen. Der Schwarm der ungesehenen Möwen schien geradewegs aus dieser grausigen, archaischen Landschaft zu kommen.
     Die Vögel ließen sich wieder nieder, und Judith ging zögernd einige Schritte über den Rasen. Ihre undeutliche Form störte den gleichmäßigen Lichtkreis in seinen Augen. »Sie hören sich an wie ein Schwarm Piranhas«, sagte er mit einem gezwungenen Lachen. »Was tun sie dort – zerreißen sie einen Bullen?«
     »Nichts, Liebster, soweit ich sehe…« Judiths Stimme senkte sich bei dem letzten Wort. Obgleich Maitlands Blindheit nur vorübergehend war – tatsächlich konnte er, wenn er die Binde verschob, ein unklares, aber zusammenhängendes Bild vom Garten mit dem Weidenvorhang vor dem Fluß sehen –, behandelte sie ihn mit der gewohnheitsmäßigen Rücksicht und schirmte ihn durch die umständlichen Tabus ab, mit denen die Sehenden sich vor den Blinden verstecken. Die einzigen wirklichen Krüppel, dachte Maitland, sind die körperlich Unversehrten.
     »Dick, ich muß in die Stadt fahren, um einzukaufen. Kann ich dich eine halbe Stunde allein lassen?«
     »Aber sicher. Drück nur auf die Hupe, wenn du zurückkommst!«
     Die Aufgabe, das verbaute Landhaus allein in Ordnung zu halten – Maitlands verwitwete Mutter war auf einer Kreuzfahrt im Mittelmeer –, ließ Judith nur begrenzt Zeit, sich mit ihm zu beschäftigen. Zum Glück ersparte es ihr seine Vertrautheit mit dem Haus, ihn überallhin zu führen. Einige ausgespannte Seile und Wattepolster an gefährlichen Tischecken hatten genügt. Wenn er im Obergeschoß war, bewegte Maitland sich in den langen Korridoren und auf den dunklen Hintertreppen tatsächlich sogar mit weniger Schwierigkeiten als Judith, und gewiß mit weniger Abneigung – oft ging sie Maitland am Abend suchen und erschrak, wenn er auf einer seiner Wanderungen durch die alten Böden und Dachkammern einen Schritt vor ihr lautlos aus einer Tür trat. Das Entzücken in seinem Gesicht, wenn er auf der Jagd nach Kindheitserinnerungen war, erinnerte sie merkwürdigerweise an seine Mutter, eine große, hübsche Frau, deren sanftes Lächeln immer eine mächtige, ureigene Welt zu verbergen schien.
     Zu Anfang, als Maitland die Binde lästig war, hatte Judith ihm den ganzen Morgen und Nachmittag Zeitungen vorgelesen, dann einen Band Gedichte und sogar, heroischerweise, den Anfang eines Romans, M oby Dick. Aber nach einigen Tagen hatte Maitland sich mit seiner Blindheit abgefunden, und das dauernde Verlangen nach äußeren Anregungen hatte nachgelassen. Er entdeckte, was jeder Blinde bald herausfindet – daß das von außen optisch Aufgenommene nur ein Teil der visuellen Aktivität des Geistes ist. Er hatte erwartet, in eine tiefe, stygische Dunkelheit gestürzt zu werden, aber statt dessen war sein Gehirn von einem unaufhörlichen Spiel von Licht und Farbe erfüllt. Manchmal, wenn er im Vormittagssonnenschein zurückgelehnt dalag, sah er prächtige rotierende Muster aus orangefarbenem Licht, wie riesige Sonnenscheiben. Sie zogen sich zu strahlenden Punkten zusammen, die über einer verschleierten Landschaft schienen.
     Zu anderen Zeiten tauchten vergessene Erinnerungen auf diesem Bildschirm

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