Der unsichtbare Kreis
weiter. Posten, die ihm nicht konkret erschienen, strich er von der Liste:
War Stroganoff glücklich?
Warum war er es?
War er es vollkommen, halb, zu achtzig Prozent?
Worin bestand der Rest?
Es beunruhigte ihn nicht so sehr, keine Antwort zu wissen, als vielmehr, das harmonische System seines Spiels durch irrationale Größen gestört zu sehen.
Stroganoff war ein kleiner, beweglicher Fünfziger, hager, sehnig. Das Gesicht trug er stets leicht geneigt, wodurch die vorspringende, gebogene Nase zwischen den kühnen Augen kaum an Bedeutung verlor. In diesem Gesicht wurde ein ganzes Leben sichtbar, sinnlich real, durch nichts verhüllt. Eine Offenherzigkeit lag darin, der Djagganaut mißtraute.
Lange bevor seine Forschungen Stroganoffs Namen berühmt gemacht hatten, ließ irgendeine läppische Begebenheit ihn zum Inbegriff für verschrobene Originalität werden. Djagganaut hatte den Anlaß vergessen. Er studierte damals noch, bewunderte den Berühmten und bedauerte gleichzeitig, daß ein Genie sich in Kleinlichkeiten verzettelte, anstatt sein Lebenswerk zu vollenden. Auch wenn die meisten Geschichten erfunden waren, Stroganoff schien ein merkwürdiges Leben zu führen, unstet, unkonzentriert. Er tauchte auf wie ein Phantom und verschwand, Gerüchte hinterlassend. Fest stand lediglich, er hatte die Ganymed-Expedition überlebt und daselbst die Thau-Viren entdeckt, die Grundlage für das später von ihm erforschte und nach ihm benannte biogenetische Phänomen. Auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn trat er das Arbeitsgebiet anderen ab, um sich wissenschaftlich zweitrangigen Problemen zu widmen.
Während der Mahlzeit sprengte Stroganoffs Vitalität jede Fessel. Die allgemeine Sympathie gehörte dem kleinen Mann, seinem überschäumenden Temperament, seinen großen, dennoch leisen Gesten, seiner Ironie und seiner Klugheit. Trotzdem war er ein Fremder unter ihnen. Sie erfreuten sich an ihm wie an einem Exoten, ließen sich von seinen Kapriolen mitreißen. Stroganoffs Ehrfurchtslosigkeit kannte keine Grenzen, und Djagganaut fragte sich, wann die anderen merken würden, daß Stroganoff auch vor ihnen nicht haltmachte. Vielleicht vermuteten sie es bereits, doch es war ihnen unmöglich, Stroganoff in die Defensive zu drängen, ihn ans Kreuz ihrer schwachen Moral zu nageln.
»Warum habt ihr euch hierher verpflichtet?« fragte Stroganoff. Er unterbrach den Schwall der Worte. »Ich, wißt ihr, brauchte gerade Geld, die Gelegenheit war günstig. Außerdem kenne ich den Neptun noch nicht.« Er lachte in ihr erschrockenes Schweigen, nicht zu laut, aber aus vollem Herzen. Es machte ihm nichts aus, allein zu lachen. Irgendwann stimmten sie immer mit ein.
Djagganaut fand das unfair, bis er bemerkte, daß Stroganoffs Ironie freundlich war. Was hatte er denn erwartet? Die Phrase vom wissenschaftlichen Ethos? Er registrierte den scharfen Blick, mit dem Stroganoff die lächelnde Ungläubigkeit der anderen zerfleischte. Ehe er bei ihm anlangte, senkte er den Kopf und aß eilig weiter. Welche Antwort hätte er, wenn Stroganoff ihn fragte? Konnte er zugeben, daß eine Frau ihn aus der Bahn geworfen hatte?
Nach der Mahlzeit ging man auseinander, einzeln, zu zweit, in kleinen Gruppen. Djagganaut schlenderte zum Konzentrationsraum. Diese Einrichtung, die man an Bord aller größeren Schiffe fand, war mit echter Vegetation ausgestattet und mit einem Wetterprogramm. Da er niemanden entdeckte, wählte er, wonach ihm zumute war, verharrte einige Sekunden am Eingang, bis ein kühler Lufthauch durch die Zweige der Bäume fuhr und ein Nieselregen jenes kaum wahrnehmbare Geräusch erzeugte, das er liebte. Er schlug den Kragen seiner Jacke hoch und schritt gedankenversunken durch den herbstlich anmutenden Park. Hoch über ihm jagten dichte, graue Wolkenschleier. Sie wirkten echt, ihre Geschwindigkeit war mit dem Pfeifen des Windes synchronisiert. Bei solchem Wetter hatte sich Keméle stets fröstelnd gegen ihn gedrängt. Ihr Gesicht, von regensträhnigem Haar umrahmt, hatte dann jenen Zug, dessen Ursprung und Bedeutung ihm rätselhaft geblieben war. Versteckte sie eine Bitte? Sehnsucht? Wonach?
Hinter ihm ertönten leise Schritte. Er drehte sich nicht um. Stroganoff gesellte sich als Augenwinkelschatten zu ihm, blieb gesichtslos. Schweigend gingen sie nebeneinander.
»Störe ich?«
Djagganaut deutete ein Kopfschütteln an. Er kam Stroganoffs Frage zuvor. »Was hast du eigentlich in den vergangenen fünf Jahren getrieben?«
Stroganoff lachte leise. »Du dachtest,
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