Der unsichtbare Mond
dem darunter befindlichen Zwischenraum. Sie schloss sie mit einem kleinen Schlüssel auf, den sie an ihrer Schürze trug, öffnete sie und enthüllte ein Bündel Briefe – Dutzende von Schreiben, die Wasily über die Jahre hinweg an Elena geschickt hatte.
»Aber«, stammelte Meredith verständnislos, »ich dachte, Vater hätte nie an Mutter geschrieben. Was also ist das hier?«
»Er hat geschrieben«, sagte ihre Großmutter. »Jeden Monat, manchmal öfter. Aber ich habe ihr die Briefe nie gegeben. Du bist jetzt alt genug, um alles zu erfahren – und ich glaube, wenn deine Mutter diese Briefe jemals lesen wird, dann solltest du diejenige sein, die ihr das gestattet.«
»Warum?«
Die alte Frau schüttelte nur den Kopf und drückte das Bündel in die zitternden Hände ihrer Enkelin. »Lies. Lies und lerne deine Familie kennen – dann entscheide.« Damit erhob sie sich, verließ das Zimmer und schloss die Tür leise hinter sich.
Meredith las die Briefe. Dann trug sie sie ins Nachbarzimmer und warf sie ins Feuer. Ihre Großmutter saß still da und betete. Ihr Großvater drückte schweigend ihre Hand, während sie gemeinsam zusahen, wie das Papier verbrannte. Am nächsten Tag reiste Meredith ab, um ihr Studium aufzunehmen. Sie sprach nie wieder mit Michael.
»Wie wurde er getötet?«, fragte Tetsuo.
Hjerold wiederholte die Geschichte, die er Meredith erzählt hatte und wiederholte sie noch ein weiteres Mal für die Beecrofts, die auf der Stelle zu Fujis Zimmer geeilt kamen, als sie hörten, was am Tag zuvor geschehen war. Glen war so besorgt, dass er sogar vergaß, irgend jemanden zu beschimpfen. Und Delna war überzeugt, dass Meredith sofort ein umfangreiches und anständiges Frühstück benötige, ebenso wie eine Portion Lasagne, die sie später mit nach Hause nehmen konnte. So machte sie sich auf den Weg in die Küche um alles vorzubereiten.
Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Gruppe in eines der kunstvoll eingerichteten Wohnzimmer der Kawaminamis begeben, das in braunem Samt gehalten war und in dem Originale von William Morris Hunt und Frank Millet hingen. Meredith hatte sich auf einem Stuhl niedergelassen und alle machten schon weit weniger Aufhebens um sie. Tetsuo blickte noch immer besorgt drein, und Shingo sah etwas unbehaglich aus – er schien einige ernsthafte Probleme mit dem Tod und dem Töten zu haben und verabscheute sogar den Gedanken, Fleisch zu verzehren. (Wie seine Eltern war er strikter Vegetarier und folgte dem Prinzip, nichts zu essen, das ein Gesicht besaß. Wahrscheinlich war es gut, dass er am gestrigen Morgen nicht zum Frühstück vorbeigekommen war. Obwohl Kevin, wenn man es genau nahm, kein Gesicht mehr gehabt hatte, als Meredith mit ihm fertig war.)
Fuji war in die Küche zurückgegangen um Delna zu helfen, und Hjerold zappelte nervös herum. Da die Krise anscheinend vorüber war, wollte er unbedingt wissen, ob Tetsuos Angebot, ihnen Zugang zu dem geschlossenen Magazin zu gewähren, noch immer galt.
»Mein Wirrer Freund«, sagte Tetsuo in strengem Tonfall, »hör auf, mit den Füßen zu scharren. Ich verstehe dein Verlangen, Zutritt zur Bibliothek zu erhalten, doch Meredith muss unsere erste Sorge sein.«
»Ja«, sagte Shingo. »Halt dich im Zaum.«
»Ted, mir geht es gut«, mahnte Meredith sanft, »wirklich.«
»Das ist schon in Ordnung«, sagte Hjerold. »Ich muss sowieso gehen – ich habe meinem Redakteur versprochen, dass ich um die Mittagszeit bei ihm vorbeischaue und ihm einen kurzen Abriss der Story gebe.«
»Ich komme mit«, sagte Meredith.
»Also, Meredith«, ermahnte Tetsuo sie, »meinst du nicht, dass es klüger ist, sich ein wenig auszuruhen und diese Angelegenheit auf morgen zu verschieben?«
»Ehrlich, ich fühle mich schon viel besser«, erwiderte Meredith. »Es wird mir gut tun, ein wenig an die Luft zu kommen.«
Shingo wandte sich ihr zu und legte ihr beruhigend eine Hand aufs Knie. »Möchtest du über Michael reden, Meredith? Es scheint dir wichtig zu sein.«
»Das würde ich wirklich gern«, sagte sie. »Vielleicht ist der Gedanke etwas abwegig, aber ich habe das starke Gefühl, dass es eine Menge mit diesem fruchtlosen Unterfangen zu tun haben könnte.«
»Also wirklich«, sagte Hjerold beleidigt.
»Entschuldigung – Hjerolds Geschichte über diesen Hagen und den Schatz der Nibelungen.«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Fuji, die mit einer frischen Kanne Tee ins Zimmer zurückgekehrt war. »Glaubst du, dass mehr dahintersteckt und er nicht
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