Der unsichtbare Mond
Chaucer an.«
»Wow.«
»Ja. Wenn man nicht mindestens drei Sprachen beherrschte, und zwar von Kulturen, die ausgestorben waren bevor die Menschen den Schornstein erfunden hatten, genügte man wahrscheinlich ihren Anforderungen nicht. Jedenfalls galt Michaels Interesse hauptsächlich einer Reihe von Schriften, die als die ›Edda‹ bezeichnet werden. Es handelt sich dabei im Wesentlichen um die alte Literatur Islands, die in zwei Büchern aus dem 13. Jahrhundert gesammelt wurde: die ›Prosa- oder Jüngere Edda‹, und die ›Lieder- oder Ältere Edda‹. Die Prosa-Edda ist ein einzigartiges Werk, niedergeschrieben von einem altklugen Isländer namens Snorri Sturluson. Er gewann viel Ruhm und Anerkennung für sein erzählerisches Geschick, sowohl in seiner Heimat, als auch in Norwegen, und wurde sogar dorthin gerufen, um das Leben der Könige niederzuschreiben. Doch das Werk, das alle anderen an Einfluss übertraf, war die Edda. Die Prosa-Edda – das Wort ›edda‹ lässt sich ungefähr mit Gesang oder Dichtung übersetzen – war anfänglich beinahe so etwas wie ein Lehrbuch. Sie war als Nachschlagewerk gedacht, als eine Grundlage für Dichter, die im Stil und auf die Weise der Skalden der Wikinger-Ära dichten wollten.«
»Skalden?«, fragte Shingo.
»Hast du schon einmal etwas von den Barden Englands gehört?«, fragte Tetsuo. Shingo nickte. »Gut, dann denk dir einen großkotzigen Helm mit Hörnern dazu und etwa drei Meter Schnee, und du hast einen Wikinger-Skalden.«
»Großkotzig?«, fragte Meredith grinsend.
»Ich will nur, dass der Wirre Harold sich wohl fühlt«, erwiderte Tetsuo.
»Vielen Dank, Mann«, sagte Hjerold.
»Alles klar«, sagte Shingo. »Entschuldige die Unterbrechung, Meredith.«
»Das ist schon in Ordnung. Gute Antwort, Ted.« Tetsuo verbeugte sich errötend und sie fuhr fort. »Sturluson befürchtete offenbar, dass die traditionellen Erzähltechniken verloren gehen und die mythologischen Anspielungen und Andeutungen in den Geschichten selbst verblassen könnten. Die Schuld daran gab er der wachsenden Popularität neuer Formen von Dichtung und Prosa, die im westlichen Europa aufgekommen waren und einen erbarmungslosen Marsch über den Kontinent begonnen hatten.«
»Bacon, dieses Arschloch«, sagte Hjerold. »Es ist seine Schuld, diese ganzen Dramen: ›Weg, du verdammter Flecken‹, und das alles.«
»Das ist von Shakespeare«, warf Shingo ein.
»Ja, das ist es, was wir glauben sollen«, erwiderte Hjerold.
»Shakespeare oder Bacon kamen viel später«, sagte Meredith und fuhr fort: »Sturluson machte sich Sorgen um die grundsätzlichen Dinge – die Form der Geschichten selbst und das Wesen jenes archetypischen Glaubens, der sie anfänglich inspiriert hatte. Also unterteilte er die Prosa-Edda in drei Abschnitte, von denen jeder eine Erläuterung der Regeln poetischer Sprache darstellte, und baute die Anwendung dieser Regeln in die Nacherzählung der Mythen und Legenden ein, die er so sehr liebte. Das erste Buch hieß das Gylfaginning, oder ›Wie Gylfi getäuscht wurde‹ und ist im Wesentlichen ein großes Sagenbuch. Es stellt mehr oder weniger ein Handbuch zu den frühesten Mythologien dar – so etwas wie eine Bibel, in der die Götter ebenso viel Zeit damit verbringen, sich gegenseitig zu verprügeln, wie mit den Menschen auf der Erde herumzumachen. Im Mittelalter war es eine sehr beliebte und viel kopierte Sammlung von Geschichten. Der zweite Teil hieß Skáldskaparmál, oder ›Die Sprache der Dichtkunst‹ und beinhaltete weitere Beispiele technischer Ausdrücke – Kenninge und solche Dinge.«
»Kenninge?«, fragte Shingo.
Wieder sprang sein Vater ein. »Das ist eine Form von Metapher«, erklärte Tetsuo, »die meist aus einer Wortverbindung bestand und als Name verwendet wurde.«
»So wie Thor als ›Gott des Donners‹ bezeichnet wurde?«
»So ungefähr«, antwortete Meredith. »Jedenfalls wurde der letzte Teil der Prosa-Edda Háttatal genannt, ein langes Gedicht über die beiden Edelmänner König Hakon und Herzog Skuli, in dem Sturluson viele der Formen und Motive verwendete, die er in den ersten zwei Teilen entwickelt hatte.«
Fuji hob ihre Hand und unterbrach sie höflich. »Aber du hast gesagt, es gäbe zwei, äh, Eddas – wovon handelt die zweite?«
»Die Ältere Edda ist diejenige, die in mir den Verdacht weckt, es könnte bei Hjerolds Geschichte um mehr gehen, als um einen Verrückten und einen Mordfall. Während die Prosa-Edda teils Lehrbuch und teils
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