Der unsichtbare Mond
Ukraine war weithin bekannt, dass dieses Volk einem das Haus stehlen und einen obendrein dazu bringen konnte, lächelnd dabei zuzusehen. Es spielte keine Rolle, dass dies üble Nachrede war oder bestenfalls ein Klischee – Wasilys Eltern glaubten daran.
Wasily dagegen hatte bereits entschieden, dass Elena haben konnte, was immer sie wollte, und er ihr großzügig alles geben würde, was er besaß, sollte sie ihn darum bitten.
Sie heirateten und Merediths Vater errichtete für sie einen Anbau am Haus ihrer Großeltern. Dann nahm er im Schlachthof einen Platz an der Seite seines Vaters ein, um seine Ehefrau unterhalten zu können. Tag für Tag blickten sich die beiden Männer in die Augen, während eine endlose Prozession von Vieh zwischen die Lederriemen geprügelt wurde, die sich spannten, kurz bevor der Hammer fiel. Jeden Abend kamen die beiden Männer beschmiert und bespritzt nach Hause und wuschen sich.
Zwei Dinge sprachen dafür, dass Elena von Wasilys Familie akzeptiert worden war: Wasilys Mutter kaufte (nicht oft, aber manchmal) auf dem Markt ein Tuch oder einen Schal von Elenas Mutter und feilschte dabei nur wenig um den Preis. Wasilys Vater war glücklich – er arbeitete Seite an Seite mit seinem Sohn, der mit einer Frau verheiratet war, die ihn liebte und schöne, breite, gebärfreudige Hüften besaß. Er hatte Essen auf seinem Tisch und ein Dach über dem Kopf.
Ein Jahr lang war er glücklich.
Als Merediths Vater Wien verließ, tat er das ohne vorherige Ankündigung. Er erzählte es seiner Mutter, damit sie nicht fürchten musste, ihr Sohn sei tot. Er sagte, er würde schreiben (ein Versprechen, dem er bis zu seinem Tode treu blieb), obgleich er nur an Meredith schrieb und an ihre Großmutter – niemals an Elena.
Merediths Großvater bemerkte, dass sein Sohn fort war, als er im Schlachthaus eintraf und niemand ihm gegenüber in der Box stand, um die Riemen festzuhalten. An jenem Tag arbeitete er allein, hielt die Rinder fest und bemühte sich, nicht mit den blutbespritzten Händen seine verweinten Augen abzuwischen.
Eine weitere bedeutungsvolle Sache geschah in der Nacht, als Wasily fort ging – seine Frau brachte eine Tochter zur Welt.
Merediths Vater sah sie einmal und ging für immer fort. Sechs Monate später heiratete ihre Mutter zum zweiten Mal, einen Mann namens Michael Langbein.
Langbein, wie ihre Großmutter ihn immer nur nannte, wurde nur teilweise in den Kreis um Merediths Mutter aufgenommen. Elenas Familie mochte ihn, und Wasilys Mutter akzeptierte ihn des Kindes und seiner Mutter willen. Merediths Großvater dagegen sprach weder mit ihm, noch nahm er seine Anwesenheit während der seltenen Familienbesuche im Haus ihrer Großeltern väterlicherseits auch nur zur Kenntnis.
Michael war groß, gebräunt und hatte lockiges Haar. Er war schlanker als Merediths Vater und besaß ein vornehmes Auftreten, das Wasily unangenehm gewesen wäre – ihrem Großvater war es das mit Sicherheit. Michael hatte vor kurzem eine Stelle als Gastprofessor für Altere Literatur und Geschichte an der Universität Wien erhalten, doch den größten Teil des Jahres unterrichtete er Philosophie an örtlichen Oberschulen. Ihm war es auch gelungen, Meredith über die richtigen Kanäle schließlich ein Stipendium in Oxford zu besorgen – obwohl sie zu dieser Zeit bereits nicht mehr mit Michael sprach und ihre Großeltern alle anfallenden finanziellen Belastungen übernahmen.
Elena schien Wasily schrecklich zu vermissen, doch sie erzählte ihrer Tochter niemals, warum er sich entschlossen hatte, sie zu verlassen. Er wiederum schrieb fleißig und schickte die Briefe an seine Mutter, damit diese sie an Meredith weiterreichte. Sie bat ihren Vater wieder und wieder, sie zu besuchen oder ihr zu gestatten, ihn besuchen zu dürfen. Doch er lehnte stets ab – liebevoll, aber energisch. Den einzigen – wenn auch unbeabsichtigten – Hinweis zu seinem Verschwinden erhielt Meredith kurz bevor sie ihr Studium in England aufnahm. Er genügte jedoch, um ihr Leben grundlegend zu verändern.
Eines Abends, als Meredith mit den Vorbereitungen für ihre Abreise aus Wien beschäftigt war, bat ihre Großmutter sie zu einer Unterredung in ihr Zimmer. Ihr Großvater, der es sich mit seiner Pfeife vor dem Feuer gemütlich gemacht hatte, bemerkte ihr Fortgehen nicht, wie es Merediths Meinung nach auch beabsichtigt gewesen war. In ihrem Zimmer schob die alte Frau eine Anrichte beiseite und nahm eine kleine Metallkassette aus
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