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Der unsichtbare Mond

Der unsichtbare Mond

Titel: Der unsichtbare Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A. Owen
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denk daran, jeden Tag ein wenig davon zu trinken.«
    »In Ordnung. Vielen Dank.«
    Shingo schüttelte den Kopf, die Arme nachdenklich verschränkt. »Nein, das ist es nicht gewesen – jedenfalls nicht nur. Du hattest ihr gerade etwas erzählt«, sagte er und wies auf Hjerold, »und sie sah aus, als hättest du ihren Hund überfahren. Dann wurde sie ohnmächtig.«
    »Schau nicht mich an«, sagte Hjerold. »Wir haben nur über unsere Story geredet und einen Typen, der umgebracht wurde, drüben in… Oh, mein Gott, Reedy – das war nicht etwa dein Freund oder so etwas?«
    »Nein, das war nicht mein Freund«, antwortete sie schwermütig und bemerkte, wie Shingo sie irritiert ansah. »Das war mein Stiefvater.«
     

     
    Merediths Eltern, das heißt ihre Mutter und Michael, lernten sich in Wien kennen. Ursprünglich stammte Michael jedoch aus Linz. Seine Urgroßeltern waren vor etwa hundert Jahren mit ihrer Familie aus Dresden dorthin gezogen. Michael war in Österreich aufgewachsen, hatte jedoch viel Zeit in Deutschland verbracht. Er liebte die Wagner-Festspiele und machte jedes Jahr einen Ausflug nach Bayreuth. Er hatte Meredith oft gefragt, ob sie ihn begleiten wolle. Doch sie war immer zu beschäftigt gewesen, oder in der Schule, oder einfach zu sehr auf ihre eigene Unabhängigkeit konzentriert, um sich wirklich darum zu kümmern, was jemand anderen glücklich machen würde. Michael verstand das – es gehörte sich eben für ein Kind, die Existenz seiner Eltern nicht vor Mitte Zwanzig wahrzunehmen.
    Wie die Dinge standen, scherte sich Meredith einen Dreck darum, was Michael wollte. Doch es hätte ihre Mutter glücklich gemacht, wenn sie mit ihm gegangen wäre, und Meredith wusste, dass das noch lange Zeit schwer auf ihr lasten würde.
    Ihr leiblicher Vater – Wasily – war ihrer Mutter begegnet, als er bereits weit über das Stadium eines schlaksigen, mädchenscheuen Jugendlichen hinaus gewesen war, der sich gerade erst an den Köper eines Mannes gewöhnte. Doch sein Wesen und Aussehen glichen immer noch dem eines Menschen, der niemals die Unschuld der Kindheit verliert. Er und seine Eltern waren Bauern und lebten in Bingen am Rhein, wo sich vor Hunderten von Jahren seine Vorväter niedergelassen hatten, nachdem sie die lange Reise von der Ukraine über den Kontinent hinter sich gebracht hatten. Doch Mitte des 19. Jahrhunderts war in Bingen eine schlechte Zeit für die Weinberge und Ernten aller Art. Jahre der Dürre und des Grabens in trockener Erde, die von Jahr zu Jahr weniger einbrachte, hatten die Familie davon überzeugt, dass die Arbeit auf dem Land nicht die beste aller Tätigkeiten war. So zog sie mit ihrem Hab und Gut nach Wien, wo Merediths Großvater die Arbeit in einem Schlachthaus aufnahm. Er hatte Freunde in Wien und hoffte auf einen Neuanfang für die Familie.
    Andernorts war die erbarmungslose Verarbeitung von Tieren zu Nahrungsmitteln vielleicht schon zu einem gewissen Grad automatisiert worden. Im Wien der 70er Jahre handelte es sich jedoch immer noch um einen Akt roher Gewalt, von Menschenhand ausgeführt. Es funktionierte folgendermaßen: Die Rinder wurden aus ihren Pferchen in einen schmalen, umzäunten Gang geführt, wo man sie eines nach dem anderen festhielt und ihnen brutal mit einem Vorschlaghammer den Kopf einschlug. Merediths Großvater glaubte, es gebe keine schlimmere Arbeit – er hatte Unrecht. Viel, viel schlimmer war es, das ängstliche Tier festzuhalten, während es brüllend den Schlag erwartete, mit Augen, die vor Angst hervorquollen. Jede Nacht, sagte Wasily, kam ihr Großvater nach Hause, das Gesicht und die Arme blutverschmiert. Er brachte Stunden damit zu, sich über dem Waschtrog zu schrubben, während ihre Großmutter den Trog wieder und wieder mit dampfendem Wasser füllte, das sie auf dem Herd erhitzte. Manchmal, so hatte man Meredith erzählt, schrubbte er selbst dann weiter, wenn es längst nichts mehr abzuwaschen gab.
    Merediths Vater hatte ihre Mutter auf einem Markt kennen gelernt, wo sie Webarbeiten verkaufte. Er suchte sich einen Schal aus, weil er glaubte, das zarte Muster würde seiner Mutter gefallen, und zahlte zu viel dafür, weil ihm das Gesicht des schüchternen Mädchens gefiel.
    Sie hieß Elena und fühlte sich ebenso zu dem großen, unbeholfenen Bauernsohn hingezogen, wie er sich zu ihr. Unglücklicherweise gab es ein Problem – nicht so sehr für Wasily, als vielmehr für seine Eltern. Elena war eine Zigeunerin, und nicht nur in den Steppen der

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