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Der unsichtbare Mond

Der unsichtbare Mond

Titel: Der unsichtbare Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A. Owen
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Tumbleweed Lane hinüber und zum Kartchner Platz, wo der Wassertank über den Gleisen hing. Der Tank war leer, da alle Lokomotiven schon lange auf Diesel umgestellt worden waren. Aber es war ein guter Ort, um sich heimlich zu küssen, wassergefüllte Ballons auf das angrenzende Baseballstadion zu werfen oder sich Züge anzuschauen, die eigentlich nicht durch Silvertown hätten tuckern dürfen.
    Wie sich herausstellte, hatten sie das Grollen zu spät gehört. Als sie den Tank erreichten, sauste gerade der letzte Wagon vorüber. Es gelang ihnen nur einen kurzen Blick zu erhaschen, doch das genügte: Was für Voodoo-Zauber es auch sein mochten, die den Zug fahren ließen, sie reichten nicht aus, um den Zug vollkommen zu schützen – sämtliche Wagons waren dunkel. Keine Fahrtlichter, keine Scheinwerfer an der Lokomotive und keine Lichter in den Passagierwagons.
    »Mann«, sagte Hjerold. »Ein toter Zug.«
    »Hast du die Lok gehört?«, fragte Meredith. »Sie funktioniert – der Zug ist nicht einfach nur vorbeigerollt.«
    »Ja«, stimmte Hjerold zu, »aber es war trotzdem ein toter Zug.«
    In der Ferne, hinter dem Friedhof am Stadtrand, gellte ihrer Einschätzung zum Trotz das Pfeifen des Zuges durch die Nachtluft.
    Meredith sah, wie Hjerold schauderte, und fühlte ebenfalls ein Zittern. Das Pfeifen hatte wie ein Schrei geklungen.
    Sie machten kehrt, hakten einander unter und gingen auf dem gleichen Weg in die Stadt zurück.
     

     
    Auf dem Weg nach Hause stellte Meredith fest, dass Silvertown sich abgesehen von einigen Ausbrüchen von Wahnsinn angesichts der Krise gut hielt – keine Panik, großes nachbarschaftliches Wohlwollen. Das war beruhigend, besonders da sie sich auch noch um ihre persönlichen Krisen kümmern musste. Meredith machte kurz Zwischenstation in ihrem Haus und zündete einige Kerzen an. Da sie Hunger verspürte (seit dem Abendessen war eine Menge geschehen), schlüpfte sie durch eines der Fenster ins Haus der Jensen-Familie, ein Stück weiter die Straße hinunter. Es gelang ihr, deren kleine Tochter Megan mit nach Hause zu nehmen, ohne sie aufzuwecken. Jeder hielt sie für ein süßes Kind, diese Megan.
    Süß? Unsinn, dachte Meredith – sie war köstlich.

 
KAPITEL DREI
Wodanstag
     
    Da Meredith keine wirklichen Erinnerungen an ihren Vater besaß, sondern nur aus seinen Briefen und den Erzählungen ihrer Großeltern von ihm wusste, stammten ihre Vorstellungen von ihm zum größten Teil aus ihren Träumen. In einem häufig wiederkehrenden Traum sah sie sich selbst auf der Suche nach ihm durch die Hallen Walhallas streifen, der Stätte der gefallenen Helden. Es heißt, dass es in Walhalla über sechshundertvierzig Türen gibt. In ihren Träumen klopfte Meredith an jede von ihnen, doch sie fand nichts.
    Sie erzählte Michael von diesen Träumen. Er lachte und zitierte aus einer der Eddas:
     
    »Nach allen Türen,
    eh’ du ins Haus trittst,
    sollst du sehen,
    sollst scharf du schauen;
    denn nie kannst du wissen,
    ob Feinde nicht warten
    im Hause auf dich.«
     
    Danach erzählte Meredith ihm nie wieder von ihren Träumen.
     

     
    Meredith war nur einmal, kurz nach ihrer Ankunft in Silvertown, mit Tetsuo an den Ort gegangen, wo ihr Vater getötet worden war. Es war ein schönes Waldstück mit Ulmen und Ahornbäumen und vereinzelten Eichen. Da jedermann in der Stadt noch immer mit den Ereignissen der vergangenen Nacht beschäftigt war – es funktionierte immer noch nichts und für diesen außergewöhnlichen Umstand konnte keine Ursache festgestellt werden –, verspürte Meredith unvermittelt das Bedürfnis, die Stelle noch einmal aufzusuchen. Vielleicht lag es an Michaels Tod, auch wenn sie sich, was ihn betraf, niemals irgendwelche Sentimentalitäten eingestehen würde. Aber er hatte Meredith wie ein eigenes Kind aufgezogen und sie auf seine Art geliebt. Sie hatte genau genommen dreimal einen Vater verloren: das erste Mal, als Wasily Wien verließ; ein zweites Mal, als er in Silvertown ermordet wurde; und am Montag, als Hagen-Soundso-Gunnar-Soundso Michael erschlagen hatte.
    Merediths Großeltern nahmen es ihrem Vater sehr übel, dass er sie verlassen hatte. Zugegeben, es war ihre Schwiegertochter gewesen, die eine Affäre gehabt hatte. Doch wie ihr Volk, die Zigeuner, waren sie der Meinung, dass ein Mann verteidigen sollte, was ihm gehörte, um seine Ehre zu bewahren. Merediths Großmutter glaubte, er sei gegangen, weil er mit dem Verrat nicht fertig wurde. Ihr Großvater meinte jedoch,

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