Der unsichtbare Mond
schmiedeeisernen Treppe führten, und stiegen in die Bibliothek hinab.
Wenn es etwas gab, das Rod Bristol ernst nahm, dann war es seine Arbeit. Als persönlicher Bibliothekar der Kawaminamis war er nicht nur für das öffentlich zugängliche Material verantwortlich, sondern auch für das geschlossene Magazin, dessen Wert auf einige Millionen geschätzt wurde. Er begrüßte die Besucher – seine Arbeitgeber eingeschlossen – mit einer Mischung aus Misstrauen und Verachtung.
»Nun, ich nehme an, dass Sie einen legitimen Grund dafür haben, die Bibliothek zu benutzen«, begann er und sein Bart zuckte. »Aber«, sagte er im Tonfall strengster Autorität, »die Kerzen müssen draußen bleiben – in der Nähe der Bücher sind nur Laternen gestattet.«
Hjerold hustete. »Was für ein Schnösel.«
»Wie bitte?«
»Nichts«, sagte Hjerold.
Gehorsam ließen sie die Kerzen auf dem Schreibtisch zurück, nahmen sich den Karteikasten vor und schwärmten zwischen den Magazinen aus. Sie suchten nach allem, was auch nur entfernt mit dem Wahnsinn draußen in Zusammenhang stehen mochte. Nach einer Stunde trug die kleine Forschergruppe ihre Funde auf dem breiten Mahagonitisch in der Mitte des Raumes zusammen.
»Wir müssen verrückt sein«, sagte Shingo, »auch nur in Erwägung zu ziehen, dass irgendetwas von diesem Zeug mit dem, was passiert, zusammenhängen könnte.«
Meredith musste zugeben, dass sie sich ebenfalls ein wenig dumm vorkam, wenn sie den Stapel Bücher betrachtete. Es war eine ausgezeichnete Auswahl und hätte die Grundlage für einen guten Seminarplan in einem von Michaels Kursen abgegeben; oder zumindest interessanten Lesestoff für einige Wochen.
Fujis Stapel enthielt die meisten Schätze, schließlich war es ihre Bibliothek. Sie hatte frühe gebundene Exemplare von Beowulf und Sir Gawain und der Grüne Ritter aufgespürt, ebenso wie die isländische Wölsungensaga und einige Exemplare beider Eddas – in Ausgaben, die vom modernen Paperback bis zu illuminierten Texten aus der Zeit vor Kolumbus reichten.
Tetsuo hatte einen ähnlichen Stapel zusammengetragen. Er war auf wissenschaftliche Texte zu den Eddas auf Schwedisch und Englisch gestoßen, ebenfalls in Ausgaben, die im Laufe von Jahrhunderten hergestellt worden waren.
Shingo war einer allgemeineren Richtung gefolgt und hatte Exemplare von Hamiltons Mythologie ausgegraben, sowie etwa zwanzig Bücher von und über Joseph Campbell. Campbell hatte sich auf Mythen und Urbilder spezialisiert, ungeachtet ihrer kulturellen Basis. Er kam dem modernen Beispiel eines Gelehrten wie Snorri Sturluson wahrscheinlich am nächsten.
Meredith durchsuchte das Zeitschriftenverzeichnis und machte zeitgenössische wissenschaftliche Schriften über die Eddas, die Nibelungen und altnordische Mythologie ausfindig. Mehrmals stieß sie auf einen Verweis oder eine Arbeit von Michael und gab sich Mühe, nicht zusammenzuzucken.
Hjerold fand mehrere Bücher, die Kinderbuch-Adaptionen des Rings und isländischer und skandinavischer Mythen enthielten; ein Hardcover mit mehreren Heften der Comic-Serie Thor in deutscher Sprache; und ein Exemplar der Walt-Disney-Fassung von Peter und der Wolf.
»Peter und der Wolf?«, fragte Fuji.
»Hey«, sagte Hjerold. »Ich fand den Film toll.«
»Jetzt mach mal halblang«, sagte Shingo.
»Earl«, ermahnte ihn Tetsuo, »oft bleiben gerade in Kindermärchen die Keime der Wahrheit erhalten, weil Kinder sich immer noch für sie interessieren. Sie reichen sie in Erzählungen und Nacherzählungen weiter, wenn die Erwachsenen längst zu anderen Dingen übergegangen sind.«
»Tut mir Leid, Papa. Entschuldige«, sagte er und wandte sich an Hjerold. »Ich wollte mich nicht vor den Erwachsenen über dich lustig machen.«
»Das ist schon in Ordnung«, sagte Hjerold. »Halt, warte mal einen Augenblick…«
Meredith sah sich im Raum um. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass die anderen nicht nur gekommen waren, um mythologische Zusammenhänge nachzuschlagen, sondern auch um sie zu unterstützen – ganz zu schweigen davon, dass es ihnen allen eine Möglichkeit zu produktiver Arbeit gab.
»Also, wo wollen wir anfangen?«
»Hagen«, sagte Tetsuo. »Hagen und Siegfried.«
»Hier steht etwas darüber«, sagte Fuji und griff nach einem britischen Lehrbuch über die Nibelungen aus dem 19. Jahrhundert mit dem Titel ›Das Nibelungenlied: Eine neue Betrachtung‹. »Es ist ein wenig trocken, enthält aber eine präzise Zusammenfassung der Geschichte.
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