Der unsichtbare Mond
über die relativen Vorzüge des Weltuntergangs unterhielten, sah sich Meredith das Buch an, aus dem Fuji vorgelesen hatte. Sie las die Beschreibungen der Ragnarök, als ihr etwas auffiel. »Fuji, du hast hier fast eine ganze Seite ausgelassen.«
»Nun, ich dachte, die Ereignisse von allgemeinerer Bedeutung wären am wichtigsten.«
»Vielleicht«, sagte Shingo, »aber denk daran: Hjerold hat mit einer Theorie begonnen, in der ein einziger Mord der Dreh- und Angelpunkt war. Spezieller und individueller geht es gar nicht mehr.«
»Psst«, sagte Meredith. »Hört euch das an:
Brüder kämpfen
und morden einander,
Brudersöhne
verderben Verwandtschaft;
schlimm ist’s bei den Menschen,
Ehbruch fruchtbar,
Beilzeit, Schwertzeit,
zerschlagene Schilde,
Windzeit, Wolfszeit,
bis die Welt vergeht.«
Sie hielt keuchend inne, als ein stechender Schmerz ihr Bein durchzuckte. Shingo zog verblüfft die Hand weg. Dort, wo er Meredith berührt hatte, schlängelten sich fünf Blutrinnsale ihren Schenkel hinab. Allerdings bemerkte keiner den überraschten Ausdruck in ihrem Gesicht oder den erschrockenen Blick, den sie Shingo zuwarf, denn Fuji war ohnmächtig zu Boden gestürzt.
Sie ließen alles stehen und liegen und eilten ihr um den Tisch herum zu Hilfe. Tetsuo, der neben ihr gesessen hatte, trug sie mit Hjerolds Hilfe zu einem Sofa und legte sie vorsichtig darauf.
Shingo stand stumm daneben. Meredith lief zur Tür und rief Bristol zu, er solle Delna holen und einen Krug voll Wasser. Als der Bibliothekar und Mrs. Beecroft mit dem Wasser und einigen Decken den Raum betraten, war Fujiko bereits wieder wach und munter, wenn auch ein wenig blass.
»Bitte, bitte – macht nicht so einen Wirbel«, sagte Fuji. »Mir geht es gut.«
»Du bist vom Stuhl gefallen«, ermahnte Tetsuo sie sanft. »Wir wollen uns nur überzeugen, dass dir nichts fehlt, bevor du aufstehst.«
»Hier, meine Süße«, sagte Delna und wickelte eine Decke um Fujis Taille. »Ich hole ein wenig Ingwerlimonade, die wird dich ordentlich durchwärmen.«
»Also wirklich«, sagte Bristol und schnalzte mit der Zunge. »Wir sollten keine Limonade oder auch nur diesen Krug Wasser in die Nähe der Bücher bringen. Ich muss darauf bestehen.«
»Ach, verpiss dich«, sagte Hjerold.
»Nun ja«, sagte Bristol mit gerümpfter Nase und ging zur Tür hinaus. »Nun ja.«
»Mein Wirrer Freund«, setzte Tetsuo an, »ich wünschte wirklich…«
»Ich weiß, ich weiß«, sagte Hjerold. »Entschuldige meine Ausdrucksweise.«
»Das war es gar nicht, was ich sagen wollte«, sagte Tetsuo lächelnd. »Ich wollte sagen, dass ich wirklich wünschte, wir hätten dich als unseren Bibliothekar eingestellt.«
»Danke, Mann«, sagte Hjerold strahlend.
Fuji setzte sich auf und wies ihrer aller Fürsorge zurück. »Es geht mir gut, wirklich. Ich bin nur ein wenig benommen, das ist alles. Wir sollten zu den Büchern zurückkehren…«
Im selben Augenblick zerschnitt ein durchdringender Schrei die Luft und ließ alle erstarren. Es war der Sechs-Uhrvierzig-Zug aus Ogdensburg.
»Mein Gott«, sagte Shingo. »Ich hoffe sehr, das kommt von der Lok und nicht von den Passagieren.«
»Wenn sie Schlafwagen zieht, dann ist es die Lok«, sagte Hjerold. »Wenn es Reiseabteile sind, stehen die Chancen Fünfzig zu Fünfzig.«
»Wir sollten uns wieder an unsere Recherchen machen«, sagte Fuji und versuchte die Stimmung im Raum aufzuheitern. »Worüber haben wir gerade gesprochen?«
»Das Ende der Welt«, sagte Hjerold. »Und…«, er hielt inne und richtete seine Augen auf den Fußboden, wo die dünnen Blutrinnsale, die an Merediths Bein hinabliefen, eine Lache bildeten.
»Was ist das?«, fragte Hjerold und deutete mit dem Finger darauf.
»Nichts, Van Hassel!«, knurrte Shingo und trat zwischen die beiden. »Es ist nichts. Stimmt’s, Meredith?«
Meredith schluckte trocken, antwortete aber nicht. Jeder mied die Blicke der anderen. Meredith machte Anstalten sich zu setzen und ließ dabei das Buch, das sie noch immer in der Hand gehalten hatte, neben sich zu Boden fallen, wo es offen liegen blieb.
Tetsuo hob es auf und trat, nach einem flüchtigen Blick auf Merediths Bein, an Hjerolds Seite. »Ich stimme Fuji zu«, sagte er und nahm die Rolle des Friedensstifters ein. Er war sich nicht sicher, was genau hier vorging, doch ihm wurde klar, dass sie vielleicht alle ein wenig zu lange auf engstem Raum beisammen gewesen waren. »Wir sollten unsere Untersuchungen zu Ende bringen, aber ich
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