Der unsichtbare Mond
Der Nibelungenhort selbst ist ein Schatz im Besitz des Helden Siegfried und für die Erzählung eher nebensächlich. Sein einziger Anteil an der Handlung besteht darin, dass Hagen ihn Siegfrieds Witwe Kriemhild stiehlt und im Rhein versenkt, um ihn zu verstecken. Natürlich hat Hagen vor, den Schatz am Ende wieder herauszuholen – doch bevor er dazu kommt…«
»Wird er umgebracht, weil er nämlich ein übler Hurensohn ist«, sagte Hjerold.
»Das stimmt«, fand Fuji. »Woher wusstest du das?«
»So enden alle guten Geschichten«, entgegnete Hjerold. »Das ist der Lauf der Dinge.«
»Ah, mein Wirrer Freund«, sagte Tetsuo, »du hast ein gutes Herz.«
»Danke, Mann.«
»Er wurde getötet«, fuhr Fuji fort und nickte Hjerold zu, »wegen seiner bösen Taten – besonders wegen des Mordes an Siegfried.«
Als sie das hörte, konnte Meredith ein Schaudern nicht unterdrücken. Shingo schob seinen Stuhl näher heran und legte ihr beruhigend eine Hand aufs Knie.
»Der Schatz ging verloren, weil Hagen vor seinem Tod niemandem erzählt hatte, wo er sich befand.«
»Wie kam es, dass Siegfried und Hagen überhaupt aneinander gerieten?«, fragte Tetsuo.
»Das steht hier«, sagte Hjerold. »Alle diese Geschichten wurden ziemlich romantisiert – mehrere Jahrhunderte lang existierten sie sogar nur in Form von mündlicher Überlieferung, bevor man sie aufgeschrieben und mit anderen Legenden vermischt hat.«
»Gut«, sagte Meredith. »Das erklärt, wie die schwedischen, altnordischen und isländischen Geschichten alle miteinander verbunden und gesammelt wurden.«
»Treffer. Die ursprünglichen historischen Ereignisse, auf die sich die Geschichten über die Nibelungen beziehen, fanden etwa im fünften Jahrhundert statt, als Attila der Hunne durch Europa getobt ist. Vier oder fünf Jahrhunderte später wurden die Geschichten in der Älteren Edda zusammengepackt, und einige hundert Jahre danach von Snorri Sturluson noch einmal durchgerührt. Es wurde eine Menge aufgebauscht, aber die ganze Sache dreht sich um eine Frau namens Kriemhild, die Schwester von Gunther, dem König der Burgunder – ihr wisst schon, die Typen, die Attila verprügelt hat.«
Alle nickten ermutigend – Tetsuo und Fuji ebenso überrascht wie zustimmend. Die Erkenntnis, dass irgendwo in dem Wirren Harold ein gewissenhafter Forscher steckte, der Informationen genau herausarbeiten und wiedergeben konnte, war zumindest für Meredith eine Offenbarung, die sich mit Flugzeugen, welche sich in Drachen verwandeln, durchaus messen konnte.
»Jedenfalls ist Siegfried scharf auf Kriemhild, richtig? Also heiraten sie. Gunther dagegen, der König, hat ein Auge auf eine Frau namens Brünhild geworfen, eine Prinzessin aus Island – wahrscheinlich war sie das Vorbild für den Begriff ›Eisprinzessin‹.«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Shingo.
»Weil sie ein ziemlich fieses Weibsbild war – so eine Art weiblicher Lancelot, die sich im Kampf beinahe genauso gut schlug wie die Männer. Es wurde bekannt gegeben, dass nur ein Mann, der sie in drei Wettkämpfen an Geschicklichkeit und Kraft übertraf, das Recht erringen konnte, um sie zu buhlen.«
Meredith konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. »Um sie zu buhlen, Hjerold?«
»Ja, zu buhlen. Also, Gunther macht sich daran, diese Aufgaben zu erfüllen, und weil Siegfried Brünhild als Krieger im Wesentlichen ebenbürtig ist, ihr wisst schon, so wie Lancelot…«
»… nur männlich?«, warf Tetsuo ein. Sogar Fuji musste lächeln.
»Ja. Nein. Ihr wisst, was ich meine. Also Siegfried und Gunther, Freunde und Verbündete, machen sich auf den Weg zu Brünhild, und, ähm, nun im Prinzip schummeln sie. Siegfried benutzt einen Tarnmantel, um sich unsichtbar zu machen, und hilft Gunther, Brünhild in den drei Prüfungen, die sie von ihm verlangt, zu besiegen. Beide heiraten und sie geht nach Worms, um mit dem König zusammenzuleben.«
»Worms?«, fragte Fuji.
»So heißt der Ort am Rhein, wo er seinen Hof hatte. Hat nichts mit Würmern zu tun.«
»Hm«, murrte Shingo. »So viel zur Ritterlichkeit, was?«
»Oh, letztendlich haben sie sich damit selber in den Arsch gebissen«, sagte Hjerold. »Brünhild fand heraus, dass sie hereingelegt worden war, und dass es in Wahrheit Siegfried gewesen war, der ihre Hand gewonnen hatte und nicht Gunther. Das führt zu einer Menge Zwietracht an Gunthers Hof und einer seiner Kumpane tötete Siegfried.«
»Hagen.«
»Richtig. Zu diesem Zeitpunkt verschwindet Brünhild. Der Rest
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