Der unsichtbare Mond
der Geschichte handelt von Kriemhilds Rache, die hauptsächlich von ihrem zweiten Mann in die Tat umgesetzt wird – Attila, der…«
»… der durch Burgund tobt«, sagte Tetsuo beeindruckt. »Das ist eine fantastische Geschichte, Harold.«
»Also«, sagte Shingo, »jemand, der die Rolle von Siegfried spielte, wurde von einem Mann getötet, der sich für Hagen hielt. Wonach sollen wir als nächstes Ausschau halten? Wie steht es mit diesem Festival, dieser Sache in Bayreuth?«
»Soweit ich das verstehe«, sagte Hjerold und ging die Ausschnitte durch, die er aus seiner allgegenwärtigen, überfüllten Tasche gezogen hatte, »geht es dabei um die Aufführung von Richard Wagners vierteiliger Oper ›Der Ring des Nibelungen‹.«
»Das könnte die Untertreibung des Tages sein«, sagte Meredith lächelnd. »Ich habe hier ein paar Ausschnitte aus den Zeitschriften, aber ich kann es euch ebenso gut aus dem Kopf erzählen. Im Wesentlichen geht es bei diesen Festspielen um Wagner – Bayreuth dreht sich um ihn wie ein Mond, und dort hat man ein gewaltiges Opernhaus erbaut, nur für die Aufführungen seiner Werke, aber insbesondere für den Ring-Zyklus. Das Festival gibt es seit Jahrzehnten, und es ist eines der großen Treffen der High Society in Deutschland, vielleicht sogar in ganz Europa. So was wie die Oscarverleihung mit Opern. Michael hat mich immer gefragt, ob ich ihn begleiten möchte, und ich habe es nie getan. Aber soweit ich weiß, ist er mehrmals dort gewesen und hat es jedes Mal sehr genossen. Ich habe keinen weiteren Gedanken an das Festival verschwendet, bis mir Hjerold erzählt hat, dass Michael am Montag dort ermordet wurde.«
»Wie werden die Künstler für das Festival ausgewählt?«, fragte Tetsuo.
»Kennst du den Witz darüber, wie man in die Carnegie Hall kommt?«, fragte Meredith. »Nun, es braucht eine ganze Menge mehr als das, um das Festival in Bayreuth überhaupt nur zu besuchen, geschweige denn dort aufzutreten. Man muss Weltklasse sein, nur um vorsprechen zu dürfen. Caruso-Klasse, Pavarotti-Klasse. Nach Bayreuth kommt nur die Elite. Er mag ein Mörder sein und er mag verrückt sein, aber eins sage ich euch – wer immer dieser Hagen ist: Ich wette, er hat eine tolle Stimme.«
Hjerold klopfte mit dem Bleistift auf den Tisch. Er sah verwirrt aus. »Aber Reedy«, begann er, »das verstehe ich nicht ganz. Wie kommt ein Professor für Alte Literatur dazu, eine der Hauptrollen in der exklusivsten Opernaufführung der Welt zu singen?«
Die Frage traf Meredith mit der Wucht eines Donnerschlags – es war so offensichtlich und ein so krasser Widerspruch. Die anderen kamen im selben Augenblick wie sie darauf und sahen Hjerold mit einer Mischung aus Ehrfurcht und vollkommener Verwirrung an.
»Was ist?«, sagte Hjerold.
»Ich hab nicht nachgedacht, Hjerold«, sagte Meredith. »Ich kann nicht glauben, dass mir das nicht aufgefallen ist.« Unvermittelt kam ihr ein Gedanke. »Ist es möglich, dass die Berichte nicht stimmen? Dass es sich um einen anderen Michael Langbein handelt?«
»Mmm. Ich schau mal nach.« Hjerold wühlte einen Augenblick in seiner Tasche und zog den Bericht der Presseagentur heraus. »… bei dem Opfer, das später als Michael Langbein identifiziert wurde, handelte es sich um einen Gastprofessor für Literatur an der Universität Wien, der, wie Untersuchungen ergaben…«
»Lass mich mal sehen.«
Zu dem Bericht gab es ein Foto. Es war eindeutig - Meredith hatte das Foto vor Jahren selbst gemacht.
Sie schüttelte den Kopf, während sie Hjerolds Geistesblitz in Gedanken immer noch hin- und herwälzte. »Ich verstehe das nicht – er hätte nicht auf dieser Bühne sein dürfen.«
»›Sie besetzten die Bühne‹ – so wird die Situation beschrieben, bevor das Faxgerät den Geist aufgegeben hat«, sagte Hjerold und starrte angestrengt auf das vergilbte Blatt. »Anscheinend hätte also keiner von beiden dort sein sollen. Außerdem steht hier… Reedy, wusstest du, dass man ihn gefeuert hatte?«
Meredith runzelte die Stirn und griff nach dem Papier. »Nein, ich hatte keine Ahnung. Aber«, fuhr sie fort und überflog das Fax, »anscheinend sind sie Kollegen gewesen… Nein, warte. Hagen – ich meine Galen – war sein Chef an der Universität. Ich frage mich, ob das etwas mit dem Konflikt in Bayreuth zu tun hat.«
»Oh, Mann«, sagte Hjerold, der sichtlich in sich zusammensank. »Glaubst du wirklich?«
»Es könnte vielleicht eine Rolle gespielt haben«, stimmte Fuji zu.
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