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Der unsichtbare Mond

Der unsichtbare Mond

Titel: Der unsichtbare Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A. Owen
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Versammlung einberufen.
    Während Meredith die wenigen Häuserblocks zur Essigfabrik zurücklegte, begann sie sich zum ersten Mal zu fragen, ob die seltsamen Empfindungen, die sie verspürt hatte, mehr bedeuteten – sie fragte sich, ob sie schreckliche Dinge tat. Und ob das einzige echte Monster in der Stadt womöglich sie selbst sei.
    Sie wurde aus ihren Grübeleien gerissen, als sie Fuji sah, die in die entgegengesetzte Richtung auf den Stadtrand zuging. Meredith winkte und rief, doch Fuji schien sie nicht zu hören. Es war kalt und Fuji trug einen schweren, gefütterten Anorak, doch Meredith konnte sehen, dass ihre Hände um das kleine Bündel Blumen, das sie trug, blau verfärbt waren. An ihrer Stelle, dachte Meredith, hätte ich Handschuhe angezogen. Aber es stand ihr nicht zu, ältere Leute zu belehren.
    Meredith traf direkt vor der Tür des Soame’s auf Hjerold, der seine Tasche den Gehsteig entlang schleppte.
    »Grüß dich, Reedy«, sagt er und winkte. »Schöner Morgen für einen atomaren Winter, was?«
    Die ganze Nacht hindurch hatte es unaufhörlich geschneit, und am Morgen lag der Schnee bereits einige Zentimeter hoch. Immerhin musste man auf den glatten Straßen keine Angst vor Verkehr haben – das heißt, solange man nicht in die Nähe eines hungrigen Autos geriet. Hjerold war zu dem Schluss gekommen, dass irgendwo ein Atomangriff stattgefunden haben musste. Das war sicherlich eine ausreichende Erklärung für die elektrischen, mechanischen und kommunikationstechnischen Ausfälle, ebenso für die atmosphärischen Bedingungen. Was jedoch die Menschen und Tiere betraf, die verschwanden, oder die Maschinen, die plötzlich einen Hang zur Unabhängigkeit und den dazu gehörigen Appetit entwickelten, erklärte es rein gar nichts.
    Gemeinsam betraten sie das Soame’s. »Hallo Glen, hallo Delna«, sagte Meredith so fröhlich sie konnte. »Wie war eure Nacht?«
    »Nicht schlecht«, sagte Glen. »Delna hat die erste Hälfte des Abends damit verbracht, mir den Rücken zu rasieren.«
    »So?«
    »Und den Rest der Nacht habe ich ihr den Rücken rasiert.«
    Meredith war entweder müde oder litt an Koffein-Mangel – oder beides, denn Glens Erklärung klang in diesem Augenblick ausgesprochen logisch: In dem schwachen, trüben Licht sah Delna in der Tat so aus, als habe sie genauso viele Stoppeln wie Glen. Allerdings fühlte sich Meredith selbst auch nicht besonders attraktiv. Die städtische Wasserversorgung hatte am Morgen den Geist aufgegeben. Ihre Haare sahen furchtbar aus. Sie hatte nicht geduscht und das schien sie aus irgendeinem Grunde jeglicher Ausstrahlung zu berauben. Ihre Haut sah fleckig aus und ihre Brüste schienen ungewöhnlich schwer. Vermutlich trug es nicht zu ihrem Wohlbefinden bei, dass ihre Ernährung die ganze Woche über unregelmäßig gewesen war – weswegen sie früher oder später von Delna oder Fuji etwas zu hören bekommen würde.
    Meredith sah sich die Gesichter der Männer an, die in der Haupthalle herumsaßen. Zusammenkünfte zur Besprechung wichtiger Situationen waren natürlich nur Sache des Mannsvolkes; die Frauen, die ihr Hirn mit solchen Nebensächlichkeiten nicht belasten wollten, konzentrierten sich aufs Kochen, Kinder kriegen und dergleichen. Da saßen sie also: Lloyd Willis und Bürgermeister Stanley; Mel Hansen, ein Lehrer vom anderen Ende der Stadt; Eddie Wallace, ein Ingenieur und Gutsbesitzer (was er anpflanzte, starb eines schnellen, qualvollen Todes); Carvel Solomon, dessen Familie zu den ursprünglichen Siedlern gehört hatte und nach der die Straße, in der sich die Essigfabrik befand, benannt war; und Carl Cole, der gleich nach Meredith und Hjerold eingetroffen war, rot wie eine Rübe und wild wie eine Hornisse.
    Cole gehörte wie Carvel Solomon zu den Stadtältesten und wurde aus drei Gründen geliebt und geachtet: Er war eine wandelnde Fundgrube der Stadtgeschichte; er wusste mehr über Ackerbau als sonst jemand in drei Staaten; und er hatte sämtliche Mitglieder des Stadtrates mit einer Nussbaumgerte versohlt, bis ihnen Hören und Sehen verging, wenn er sie als Jungen dabei erwischt hatte, wie sie seinen Mais stahlen. Cole lebte in der Nähe des Flusses und hatte einmal eine Springflut überlebt, indem er sich auf sein Hausdach setzte – bis auf einen Hut splitternackt. Als die Rettungsmannschaft endlich eintraf, lachte Shingo, der damals Sechs war und im Boot mitfuhr, und zeigte auf den ›König ohne Kleider‹.
    (Eigentlich war es ein Kaiser gewesen, der

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