Der unsichtbare Mond
denke nicht, dass das heute Abend geschehen muss.«
»Das stimmt«, schaltete sich Hjerold ein. »Niemand weiß, wie lange diese Ragnarök-Geschichte dauern wird.«
Shingo meldete sich zu Wort, ohne Merediths blutendes Bein zu erwähnen. »Hatte dein Stiefvater – Langbein – einen Bruder?«
»So weit ich weiß nicht. Michael war ein Einzelkind.«
»Gut«, sagte Shingo, »aber vielleicht waren seine Eltern… Ich meine, bis vor einigen Jahren hast du noch geglaubt, deine Mutter sei deinem Vater treu…«
»Sprich’s nicht aus.«
»Tut mir Leid.«
Hjerold streckte sich und gähnte. »Ich hätte nichts dagegen, schlafen zu gehen. Nach allem, was wir wissen, könnte das Ganze auch nur ein schlechter Traum sein – vielleicht ist das Ende der Welt ohnehin nichts Anderes: nur ein ganz schlechter Traum.«
Wie zur Antwort ging Tetsuo zu Fujis Seite des Sofas und nahm einen Schluck von Delnas Limonade. Er räusperte sich und begann aus dem Buch vorzulesen, das Meredith fallen gelassen hatte.
»Die Sonne erlischt,
das Land sinkt ins Meer,
es schwinden am Himmel
die strahlenden Sterne;
es rasen der Brandrauch
und das Feuer;
hohe Hitze
steigt himmelan.«
Er hielt inne und schloss das Buch.
»Seht nur«, sagte Tetsuo und wies auf die hohen Fenster.
Draußen begannen unter dem orangefarbenen Leuchten des Himmels Schneeflocken zu fallen, die träge über das Antlitz der dunklen Sonne trieben.
Sie kamen überein, sich am nächsten Morgen wieder zu treffen, und jedermann im Soame’s verabschiedete sich nervös. Tetsuo und Delna verfrachteten Fujiko ins Bett; sie machten sich noch immer Sorgen um sie. Shingo brachte Meredith nach Hause und entschuldigte sich unterwegs mehrmals dafür, dass er sie versehentlich verletzt hatte, wenn auch nur leicht. Er beharrte darauf, dass er lediglich von dem Wirbel der Geschichten erfasst worden sei und er sich von seiner Besorgnis hatte überwältigen lassen.
Außerdem entschuldigte er sich dafür, Hjerold angeschnauzt zu haben, der Shingo seinen Ausbruch wahrscheinlich weniger übel nehmen werde als Meredith. Er schrieb sein Verhalten dem Druck der letzten Tage zu und schwor, sich mit dem durchgeknallten Journalisten wieder zu versöhnen, sobald sich die Gelegenheit bot. Meredith aber weigerte sich hartnäckig, ihm zu verzeihen, bis sie schließlich nach Hause kamen und – wenig überraschend – in ihrem Bett landeten.
Als Meredith und Shingo zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten, hatte sie nicht zu fragen gewagt, wie alt er war. Doch sie wusste, dass er erst im Vorjahr die Schule beendet hatte. Zusammen mit dem, was sie aus den Briefen ihres Vaters erfahren hatte, folgte daraus, dass Shingo ungefähr in dem Alter war, das sie ganz knapp davor bewahrte, ins Gefängnis zu wandern. Allerdings konnte sie nicht vollkommen sicher sein.
In jener Nacht, als Meredith Shingo danach fragte, während sie aneinandergekuschelt auf ihrem Bett lagen, lachte er nur. »Natürlich bin ich achtzehn«, sagte er fröhlich. »Mein Geburtstag war etwa sechs Wochen vor deiner Ankunft. Sieht fast so aus, als hätten wir Glück, da wir uns nun beide unserer sexuellen Reife nähern.«
»Du Quatschkopf«, sagte Meredith und warf ein Kissen nach ihm. »Ich bin erst Sechsundzwanzig – Frauen kommen nicht vor Mitte Dreißig richtig in Fahrt. Du dagegen wirst in ungefähr drei Jahren schon wieder anfangen abzubauen. Ich sollte mich also vielleicht schon mal nach einem neuen jungen Hüpfer umsehen…«
Er sah sie so niedergeschlagen an, dass sie sofort aufsprang und ihre Arme um ihn legte.
»Ich mache doch nur Spaß.«
»Klar.«
»Willst du, dass ich dir eine Geschichte vorlese?«
»Du willst mich auf den Arm nehmen.«
»Dann willst du, dass ich dich allein lasse?«
»Jetzt bist du gemein.«
»Willst du es noch einmal machen?«
Er sah sie unbeteiligt an, sagte jedoch nichts. Seine starren Augen schienen ihren Blick zu suchen, als seien sie bemüht, eine andere Frage zu beantworten – eine, die sie nicht gestellt hatte.
An ihrem Schenkel fühlte sie, wie sich sein Glied regte und steif wurde.
»Ich nehme das mal als ein Ja.«
Er antwortete ihr mit einem heftigen Kuss. Meredith legte ihre Beine um seine Hüfte, und ineinander verschlungen fielen sie zurück aufs Bett.
Meredith vermutete, dass es Fujiko war, die auf ihrer Veranda stand und lauschte. Sie konnte es jedoch nicht mit Sicherheit sagen.
Sie war mit Shingo nach ihrem enthusiastischen Liebesspiel
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