Der unsichtbare Mond
keine Kleider getragen hatte, doch wen kümmert’s – er war Sechs und es war lustig.) Seitdem nannte ihn jedermann Old King Cole.
»Ich werde mal den Anfang machen«, sagte Eddie. »Ich denke, wir alle wissen, dass eine Menge Kinder und Erwachsene verschwunden sind, also haben der Bürgermeister und ich diese Versammlung einberufen, um zu entscheiden, was wir tun können. Am meisten mache ich mir allerdings Sorgen um meine Rinder.«
»Mir geht’s genauso«, sagte Mel Hansen. »Ich habe eine Menge Schafe verloren. Grausig. Ein schrecklicher Anblick.«
»Das stimmt!«, rief Carl Cole und trat in die Mitte des Raumes. »Das war das furchtbarste, was ich je gesehen habe! Meine Schafe! Meine armen, armen Schafe!«
»Ist ja gut«, sagte Eddie und klopfte ihm mitfühlend auf den Rücken. »Wir alle sind hier, um genau über diese Sache zu sprechen. Auf dem Weg hierher habe ich sogar bei dir vorbeigeschaut, aber du warst nicht zu Hause.«
»Natürlich war ich nicht zu Hause!«, fauchte Carl. »Ich war draußen auf dem Feld und hab mich um meine Schafe gekümmert!«
»Du hast dich um sie gekümmert?«, bemerkte einer der anderen. »Du meinst, einige von ihnen haben überlebt?«
»Natürlich haben sie überlebt – aber was für Wolle werde ich jetzt bekommen, nachdem sie einen derartigen seelischen Schock erlitten haben?«
Alle im Raum starrten Old King Cole an und blinzelten. Schließlich meldete sich Hjerold zu Wort. »Mr. Cole? Sir? Worüber zum Teufel… ich meine, worüber genau sprechen Sie?«
»Dieses furchtbare Monster«, sagte Carl bitter. »Dieses Scheusal. Ich habe den Lärm gehört – Nellie trägt ein Glockenhalsband. Es war etwa um fünf und ich wollte gerade hinaus in die Scheune, aber…« Er stockte und hielt nach Shingo Ausschau. »Weil ich nur in Unterhosen war, wollte ich nicht zu weit hinein gehen. Mein Glück, dass ich’s nicht getan hab – sonst hätt’s mich als Nächsten gerammelt, nachdem es mit meiner Nellie fertig war.«
»Nellie?«, fragte Hjerold.
»Sein preisgekröntes Schaf«, erklärte Mel.
»Habe ich dich richtig verstanden?«, fragte Glen. »Du sagst, er hat dein Schaf, äh, gerammelt?«
»Verdammt richtig«, sagte Carl. »Fellbedeckt war er, wie ein Tier, und er hat sich die alte Nellie vorgenommen. Ich warf einen Blick in die Scheune, und da sah ich ihn. Er schnaufte und keuchte und rammelte vor sich hin. Bis ich eine Hose angezogen und mein Gewehr geholt hatte, war er weg.«
Sie saßen da wie ein Stillleben: zehn sprachlose Leute, die einen äußerst aufgebrachten Farmer ungläubig anblickten.
»Nun«, sagte Eddie, »ich habe keine Ahnung, wie wir weiter vorgehen sollen.«
»Wartet«, sagte Carl und kramte in seiner Hosentasche. »Ich hab’ hier was. Meine Nellie hat sich gewehrt, und wie!«, sagte er stolz. »Ich habe hier eine Blutprobe von dem Scheißkerl, von ihren Hufen.«
Er zeigte ihnen ein Taschentuch, das mit Blut beschmiert war. »George?«, sagte er laut, »George, bist du hier?«
»Hier, Carl – und ich habe Oly dabei.«
George Daves war der Biologielehrer der siebten Schulklasse. Allerdings war er in erster Linie dafür bekannt, den besten Spürhund in St. Lawrence County zu besitzen. Oly, ein griesgrämiger, ergrauter, dreibeiniger Schäferhund-Husky-Mischling, konnte einen Papierhut den Amazonas hinunter verfolgen und ihn dann in den Wald zurückbringen, in dem die Bäume gefällt worden waren, aus denen man das Papier gemacht hatte. Carl reichte George das Taschentuch, der es Oly unter die Nase hielt. »Na los, mein Junge – lauf, hol ihn dir!«
Oly ging ab wie eine Rakete – zumindest so schnell, wie es ihm auf drei Beinen möglich war. Er raste geradewegs durch die Eingangstür des Soame’s ins Freie -
- und raste Sekunden später wieder herein.
Er lief um die Männer an den Tischen herum zu der Seitentür, die zu den privaten Wohnräumen der Kawaminamis führte, stieß sie auf und verschwand. Wenige Augenblicke später erhob sich dahinter ein unwahrscheinlicher Lärm, gefolgt von einem triumphierenden Bellen: Oly war offenbar der Meinung, er habe seine Beute in der Bibliothek gestellt.
»Verdammt. Entschuldige, Ted«, sagte George.
Hjerold sah den Biologielehrer zweifelnd an. »Bist du sicher, dass ihm nur ein Bein fehlt?«
George erhob sich von seinem Stuhl und kratzte sich am Kopf. »Oly irrt sich fast nie – vielleicht ein oder zweimal seit er aus dem Welpenalter raus ist. Wahrscheinlich liegt es an diesen ganzen alten Büchern.
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