Der unsichtbare Mond
hatte. Ob ihn diese Prozedur jedoch in einen Skalden verwandelte oder ihn einfach nur in den Wahnsinn trieb, ließ sich nicht genau sagen.
Meredith war bereits ein halbes Dutzend Mal auf dem Friedhof gewesen, hatte jedoch dort nie wirklich Trost oder Inspiration gefunden. Seit dieser Wahnsinn um sie herum ausgebrochen war, gelang ihr das noch weniger. Wäre die Aufklärung des Mordes an ihrem Vater das einzige Problem gewesen, hätte sie bereits genug im Dunkeln getappt. Nahm man den offenbaren Anbruch der Ragnarök hinzu – und Elemente wie die Edda-Seite schienen auf eine große Anzahl ineinandergreifender Rädchen hinzudeuten –, so hatte sie das Gefühl, ihre persönlichen Ängste und Einsichten seien nichts als Staubkörner in der Wüste.
Sie brauchte mehr Trost an diesem Abend, als sie hier erhalten konnte. Sie brauchte Shingo.
Meredith erhob sich und rückte ihren Schal zurecht. Dann beugte sie sich vor, küsste den schneebesprenkelten Hügel und wandte sich ab, um mit forschem Schritt den Friedhof zu verlassen.
Vor ihrem Haus traf Meredith auf Shingo, der in der Dunkelheit saß und auf sie wartete. Sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Ohne Meredith anzusehen, streckte er einen Arm aus und zog sie an sich. Dabei stellte sie fest, dass er geweint hatte. Meredith hatte ihn in allen möglichen Stimmungen erlebt. Sie hatte mit angesehen, wie er wütend geworden war, und auch jene unbedeutenden Gefühlsregungen, die jeder von Zeit zu Zeit äußert. Noch nie hatte sie ihn jedoch weinen sehen. Meredith rückte näher und legte ihm den Arm um die Schultern.
»Was ist mit dir, Shingo?«
»Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll, Meredith. Ich möchte es so gern sagen, aber ich habe Angst. Ich habe Angst vor dem, was du antworten wirst.«
Ihre Stimme blieb fest, doch in ihrem Inneren fühlte sie einen eisigen Schatten über ihre Seele gleiten.
»Ist es wegen Hjerold?«
Shingo wandte sich ihr unvermittelt zu. Seine Augen leuchteten überrascht. »Was hat dir Hjerold gesagt?«
Meredith zuckte mit den Schultern. »Er hat einige Schriftstücke erwähnt, die ihr im Bibliotheksarchiv gefunden habt, das ist alles. Er sagte, dass ihr beiden noch ein wenig weiter forschen wollt, bevor ihr die Sache mit uns allen besprecht.«
Erleichtert lehnte er sich zurück. Offenbar war das nicht die Antwort, die er befürchtet hatte, und seine nächsten Worte machten das auf erschütternde Weise klar.
»Mann, hast du mich vielleicht erschreckt! Wie dumm von mir – natürlich konnte Hjerold gar nicht wissen, dass ich dich bitten wollte, mich zu heiraten.«
»Was?«
»Ich glaube, du hast mich verstanden – ich möchte, dass du mich heiratest, Meredith. Das wollte ich schon seit langem. Jetzt kann ich dich endlich fragen.«
Komisch, dachte Meredith. Man sollte meinen, dass man nicht spüren kann, wie man blass wird, und dennoch ist es so. Noch immer erschüttert von Shingos Bekenntnis, lenkte sie ab. »Warum musstest du damit warten?«
»Weil es wirklich keine Rolle mehr spielt, jetzt nicht mehr. Alles hat sich verändert, und jetzt kann ich dich fragen. Ich liebe dich, Meredith. Heirate mich.«
Sie umarmte ihn fest, ohne ein Wort zu sagen. Seine Tränen tropften auf ihre Brust, und sie fragte sich, warum sie glaubte, dass die Veränderungen, von denen er sprach, nicht jene waren, die sich in der Welt um sie herum ereigneten.
Sie war sicher, dass er etwas vollkommen Anderes meinte.
In ihrem Schlafzimmer, fern vom sanften Leuchten der im Haus verteilten Öllampen und der blendenden Helligkeit des Schnees vor dem Fenster, kuschelten sie sich in- und umeinander, wie sie es schon oft getan hatten. Doch irgendwie schien es dieses Mal anders zu sein.
Shingo drängte kraftvoll in sie. In der Dunkelheit ihres Zimmers schien es ihr, als habe er… nein, nicht an Gewicht zugenommen, das war es nicht… an Masse zugenommen vielleicht?
Seine Hüften bewegten sich auf und nieder, immer schneller, sein Atem ging keuchend, bis er sich schließlich mit einem Zittern aufbäumte und erschöpft auf ihr zusammenbrach.
Meredith hielt ihn fest und streichelte seine Schultern – und musste zugeben, dass sie ein wenig enttäuscht war. Zum ersten Mal, seit sie einander kannten, war sie nicht zum Höhepunkt gelangt. Normalerweise war Shingo ein äußerst gewissenhafter Liebhaber und sorgte immer dafür, dass ihr Vergnügen mindestens ebenso groß war, wie sein eigenes. Doch heute Nacht schien er unkonzentriert, nur
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