Der unsichtbare Mond
erwarten sollen«, sagte Meredith reumütig. »Nachdem wir viele Jahre nicht miteinander gesprochen haben, entspricht ein Pergament durchaus Michaels Vorstellung von einem Friedensangebot. Wahrscheinlich ist es aus dem ägyptischen Totenbuch oder so was in der Art.«
»Tibetisch.«
Sie drehten sich um und sahen Hjerold an, der einen Schritt zurückgetreten war, als Meredith den Umschlag geöffnet hatte, und nun in einigem Abstand da stand und zitterte. Er war leichenblass.
»Hjerold?«, sagte Meredith, und blickte von ihm zu dem Blatt und wieder zurück. »Du weißt etwas darüber, oder?«
»Es ist tibetisch«, sagte Hjerold noch einmal. Seine Stimme war ein schwaches Flüstern. »Und, ja, ich habe es schon einmal gesehen, aber es kann nicht das gleiche Blatt sein… ich meine, das ist unmöglich…« Er schüttelte langsam den Kopf.
»Die Schrift an den Rändern scheint Deutsch zu sein«, bemerkte Fuji, »aber ich kenne mich damit nicht genug aus, um sie entziffern zu können.«
»Dabei kann ich dir helfen«, sagte Meredith, die Hjerold immer noch sorgsam im Auge behielt. Sie trat an den Tisch zurück und betrachtete das Blatt. Dann beugte sie sich näher heran und biss sich auf die Lippe. »Hmm«, machte sie grübelnd. »Ich kann es gerade so entziffern… irgendwas über…« Sie stockte. »Oh, mein Gott.«
»Wagner, nicht wahr?«
Hjerold hatte seine Fassung wiedergewonnen, trat an Merediths Seite und blickte mit einem reumütigen Gesichtsausdruck auf das Pergament.
»Ja, das stimmt«, sagte Meredith überrascht. »Woher wusstest du das?«
»Weil ich dieses Pergament schon einmal gesehen habe. Es ist Teil eines tibetischen Buches – die Titelseite, um genau zu sein – und bei den Anmerkungen handelt es sich um Originalübersetzungen von Teilen des Inhaltes, die von Richard Wagner stammen.«
»Woher weißt du, dass es Tibetisch ist?«, fragte Fuji. »Ich finde, die Schrift sieht nach Norwegisch aus.«
»Es ist Isländisch – aber das Blockdruckverfahren, mit dem das Buch hergestellt wurde, ist tibetischen Ursprungs.«
»Woher weißt du das?«, fragte Tetsuo.
»Weil«, sagte Hjerold, »ich einen der Hersteller kennen gelernt habe.«
»Unmöglich«, sagte Fuji. »Dieses Pergament muss Hunderte von Jahren alt sein.«
»Vielleicht sogar Tausende«, gab Hjerold zu.
»Wo hast du es gesehen, Hjerold?«, fragte Meredith.
»Das kann ich nicht sagen – ich meine, ich kann es wirklich nicht«, sagte Hjerold. »Ich habe mein Wort gegeben. Ich habe euch nur so viel erzählt, weil dieses Pergament genau das ist, wofür ich es gehalten habe, und dass es hier auftaucht, ist kein gutes Zeichen.«
»Wieso das?«
»Weil«, sagte Hjerold und beugte sich über eine Lampe, so dass seine Augen im Schatten lagen, »es nur zwei Möglichkeiten gibt, wie es Tibet verlassen haben kann. Jede der beiden macht mir verdammte Angst.«
»Warum, Hjerold?«, fragte Meredith drängend. »Was hast du in Tibet erlebt? Wo hast du das Buch gesehen, aus dem diese Seite stammt?«
Er saß einen langen Augenblick mit geschlossenen Augen da, bevor er antwortete. »Es tut mir Leid, ich wünschte wirklich, ich könnte euch mehr sagen. Aber ich habe mein Wort gegeben, über alles, was ich in Tibet erlebt habe, zu schweigen. Jedenfalls ist es die zweite Möglichkeit, die mir wirklich Sorgen macht.«
»Die zweite Möglichkeit?«, fragte Tetsuo.
»Der andere Weg, über den es hierher gelangt sein könnte«, sagte Hjerold. »Ich habe in Tibet jemanden getroffen – den wahrscheinlich schlauesten Menschen, dem ich je begegnet bin. Er wusste ebenfalls davon, und wenn er in die ganze Sache verwickelt ist, dann könnte das vielleicht wirklich das Ende der Welt bedeuten.«
»Aber das Pergament kam von Michael«, sagte Meredith.
»Erinnerst du dich, dass ich dir vor unserer Fahrt nach Ottawa erzählt habe, Shingo und ich hätten eine Kiste gefunden, die die Universität Wien geschickt hatte?«
»Sicher. Die Kiste voll Schubert, die vom Mathematik-Institut kam.«
»Genau. Lies das Pergament und sage mir, ob dir irgendein Name ins Auge fällt.«
Meredith warf Hjerold einen seltsamen Blick zu und tat, worum er sie gebeten hatte. Unterdessen brachte er die noch verblüffteren Kawaminamis, die nichts von der Kiste auf ihrem Abfallhaufen wussten, auf den Stand der Dinge. Nur eine knappe Minute später blickte Meredith verwundert auf.
»Liszt? Franz Liszt hat vor Wagner daran gearbeitet?«
»Dass sie Freunde waren, ist bekannt«, warf Fuji ein.
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