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Der unsichtbare Mond

Der unsichtbare Mond

Titel: Der unsichtbare Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A. Owen
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durchgeführt hätten, bei denen der Tote auf ein Boot gelegt und angezündet wurde, während das Boot aufs Meer hinaustrieb. Obwohl eine solche Vorgehensweise möglich gewesen wäre, war es unwahrscheinlich, dass sie weit verbreitet war. Sie schien eher eine Erfindung des modernen Theaters zu sein, als ein tatsächlicher Brauch der Wikingerkultur – beinahe wie die Hörner an ihren Helmen, die zwar für Hollywood taugen, nicht jedoch als historische Tatsache.
    Doch in der gegenwärtigen Situation, da der Boden nicht mit einer Spitzhacke aufgebrochen werden konnte und die Mittel zur Errichtung eines richtigen Mausoleums knapp waren, schien es eine passendere Lösung zu sein, als einfach abzuwarten oder die Tote zu verbrennen.
    Meredith wollte auf Shingo warten, doch niemand wusste, wo er steckte. Fujis Leiche wurde in Stoffbahnen gewickelt und die Männer bauten eine erhöhte Plattform, die sie auf eines der kleinen Boote setzten, die noch immer entlang des Flusses vertäut waren. Der Bürgermeister hielt eine kurze Rede. Die drei verbliebenen Mitglieder der Jennings Band spielten ›Michelle‹ von den Beatles. Der Tieflader, den sie normalerweise benutzten, hatte sich an diesem Morgen in irgendein archaisches Wesen verwandelt, das einer Kreuzung zwischen einer Nacktschnecke und einem Gürteltier glich und dessen ganzer Körper von Mäulern übersät war. Sie konnten immer noch hören, wie einige Instrumente auf der früheren Ladefläche quietschende Töne von sich gaben, während es kauend durch die Stadt rollte. Tetsuo, der immer noch schwieg, küsste seine tote Frau und zündete das Boot an. Das brennende Gefährt trieb mit der Strömung flussabwärts und befand sich in wenigen Augenblicken außer Sichtweite. Nur der dichte Rauch, der ihm am Himmel folgte, kündete von seiner Reise.
     

     
    Die Gedenkfeier war noch nicht ganz vorbei, als ein inzwischen vertrauter Schrei die Luft zerriss – der mittägliche Watertown-Express. Der Zug fuhr weiterhin, obwohl kein anderes auch nur entfernt technisches Gerät funktionierte – es sei denn, man zählte die Autos hinzu, die die Bevölkerung dezimierten. Bisher war er allerdings immer nur in der Dämmerung gefahren, oder spät nachts, wenn ihn niemand beobachten konnte. Heute war es jedoch taghell, als in der Nähe zwei dicke Rauchsäulen auszumachen waren, und das stetige Rattern der Lok den Boden unter ihren Füßen erschütterte. Sie rückte beständig näher.
    Vom Ufer des Flusses konnten die Bewohner der Stadt die anrückende Lok gut sehen, auch wenn man sie eigentlich nicht mehr wirklich Lok nennen konnte. Die einst glatten Außenlinien überlappten einander in mehreren Schichten und hatten die Struktur von Reptilienhaut angenommen. Dampf stieg aus zwei länglichen Öffnungen an beiden Seiten des Kopfes auf und breitete sich in so dicken Schwaden aus, dass die Räder nicht mehr zu sehen waren.
    Hjerold hatte den Verdacht, dass sie, würden sie das Gehäuse öffnen, ohnehin nichts vorfänden, das Rädern ähnelte.
    Alle anderen in der Stadt kamen zu dem gleichen Schluss, als das Zug-Wesen in Silvertown einfuhr, anhielt, seinen Kopf drehte und zu der Trauergesellschaft hinüberblickte, die am Ufer des Flusses versammelt war.
    »Hunderttausend Höllenhunde«, sagte Oly.
    »Das ist nicht möglich«, flüsterte George Davies, als der riesige schwarze Kopf langsam von einer Seite zur anderen schwang, als suche er etwas. »Solche Monster gibt es einfach nicht.«
    »Wenn du ihm das erklären willst«, sagte Carvel Solomon und neigte den Kopf in Richtung der Kreatur, »dann nur zu.«
    »Schon gut«, gab George zurück.
    Sonst sagte niemand etwas. Mel Hansen lehnte an einem Baum und wischte sich über die Stirn, obwohl es unter null Grad war. Eddie Wallace grinste nur, doch die Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
    Das Wesen schnaubte, und ein Schwall heißen Dampfes hüllte die Gesellschaft ein. Dann hob es zu ihrer Verwunderung zu sprechen an.
    Zunächst war nur ein kehliges Brummen zu hören, doch schließlich begannen sich Worte zu bilden. Es äußerte etwas, das eine Frage zu sein schien – einmal, dann noch einmal. Als niemand antwortete, schien das Wesen ärgerlich zu werden und es sah aus, als würde es tatsächlich von den Gleisen springen wollen. Da trat Hjerold vor und hob die Arme in einer Geste, die ebenso als Zeichen des Grußes wie der Geringschätzung verstanden werden konnte.
    Bitte, lieber Gott, dachte Meredith – lass es das als

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