Der unsichtbare Mond
Begrüßung verstehen.
Hjerold ging auf das Wesen zu, bis er wenige Meter von seinem Kopf entfernt stand. Dann rief er etwas mit lauter Stimme. Das Geschöpf wich zurück, als sei es überrascht, und Hjerold wiederholte seinen Ruf.
Das Wesen legte seinen Kopf seltsam schräg, als könne es sich nicht entscheiden, ob es beleidigt oder amüsiert sein sollte. Dann schnaubte es einen Schwall Dampf über den nervösen Journalisten, senkte seinen Kopf auf die Schienen und setzte sich in Bewegung.
Innerhalb weniger Sekunden nahm es Fahrt auf, gefolgt von einer Reihe von Passagierwagons, von denen einige immer noch belegt waren. Ausgezehrte, abgemagerte Menschen erwachten zum Leben, als ihnen klar wurde, dass man sie sehen konnte, und begannen verzweifelt gegen die Fenster zu hämmern. An der Spitze stieß der Drache (wenn es denn ein Drache war, überlegte Hjerold, denn diese Klassifizierung hatten sie bereits den Flugzeugen zugeordnet) einen weiteren durchdringenden Pfeifton aus. Eine wellenförmige Bewegung lief durch die Wagons wie die Kompression eines Darmes.
Meredith wandte sich rechtzeitig ab, um nicht mit ansehen zu müssen, welche Folgen diese Bewegung für die Passagiere in den Gängen der Wagons hatte. Die anderen waren nicht so schnell oder glücklich, und gut die Hälfte von ihnen drehte sich um und erbrach sich, als der Zug außer Sichtweite fuhr.
Meredith ging zu Hjerold hinüber und packte ihn am Arm. »Du hast ihn verstanden? Du hast tatsächlich verstanden, was er gesagt hat?«
Hjerold ließ sich ausgelaugt in den Schnee fallen und kratzte sich am Kopf. »Ich habe wild geraten. Seine Worte klangen fast wie eine Stelle aus einem altnordischen Kinderbuch, das Fuji in ihrer Bibliothek hatte. Es enthielt phonetische Umschreibungen und englische Untertitel. Ich hatte also eine ziemlich gute Vorstellung davon, was er gesagt hat.«
Meredith kauerte sich neben ihn, und die anderen, denen bewusst wurde, dass sie gerade dem Tod von der Schippe gesprungen waren, kamen ebenfalls herüber. »Und? Was hat er gesagt?«
»Im Prinzip hat er gefragt, wen von uns er fressen soll. Schließlich ist es nur höflich, vorher zu fragen.«
»Was hast du ihm geantwortet?«, fragte George.
»Ich… nun, bin mir nicht sicher«, sagte Hjerold. »Aber ich glaube, ich habe gesagt ›Geh weg, Monster – sei brav‹.«
»Mann«, sagte George und sah Carvel an, »das sollten wir aufschreiben.«
Der Schnee fiel immer noch in großen, trockenen Flocken, als die Trauergesellschaft zur Stadt zurückkehrte. Tetsuo ging abseits von den anderen und der Bürgermeister war damit beschäftigt, Mr. Janes von einem Baum zum nächsten zu jagen. Der Chef schien überzeugt zu sein, dass der Wald auf irgendeine Weise zu ihm sprach. Nach allem was geschehen war, erwartete Meredith beinahe selbst, ihn sprechen zu hören.
Hjerold, der einige Meter von ihr entfernt neben Eddie und Carvel her ging, winkte sie zu sich heran. Sie beschleunigte ihre Schritte, bis sie ihn eingeholt hatte.
»Hey, Jungs – wartet.«
»Mensch, Meredith«, sagte Eddie, »deine Haare sehen ja wirklich furchtbar aus. Und, ähm, hast du zugenommen?«
»Zumindest hat sie beim Anblick des Drachen nicht den Verstand verloren«, sagte Carvel.
»Ich mein’ ja nur«, sagte Eddie, »selbst wenn die Welt untergeht, ein Mädchen sollte sich doch um ihr Aussehen kümmern.«
»Halt die Klappe, Eddie«, sagte Carvel.
»Hm«, machte Hjerold. »Jetzt verstehe ich, warum du so oft flachgelegt wirst, Eddie.«
»Was?«, sagte Eddie. »Ich wurde seit ’91 nicht mehr flachgelegt. Ich… Hey, Mann, was ist daran so komisch?«
»Nichts, Eddie. Du wolltest mich etwas fragen, Hjerold?«
»Richtig. Und nebenbei, ich glaube, ich hatte es noch nicht erwähnt – ich heiße jetzt Herold, ohne das stumme ›J‹.«
»So wie der Engel?«
»Hm. Daran habe ich noch gar nicht gedacht«, brummte Herold und seine Stimme senkte sich zu einem verschwörerischen Flüstern. »Coole Sache. Übrigens, ohne etwas gegen Mrs. Kawaminami sagen zu wollen: Ist dir aufgefallen, dass hier eine Menge Leute sterben, wir aber nur für wenige ein Begräbnis veranstalten?«
»Manche Menschen sind besser als andere«, warf Eddie ein, »das ist der Grund. Hast du denn nie Ayn Rand gelesen?«
»Halt die Klappe, Eddie«, sagte Carvel und zerrte ihn am Kragen fort. »Tut mir Leid, Miss Strugatski.«
»Ich weiß nicht, Herold«, erwiderte Meredith. »Ich denke, die Ereignisse haben sich so überschlagen,
Weitere Kostenlose Bücher