Der unsichtbare Mond
dem Pergament sicher in seiner Tasche verstaut.
Meredith blickte ihm nach, bis er verschwand. Doch anstatt ins Haus zu gehen, beschloss sie einen Spaziergang zu unternehmen. Der Schnee fiel jetzt in dicken Flocken, aber aus irgendeinem Grund spürte sie die Kälte kaum.
Sie durchquerte das Stadtzentrum und ging am Rodeofeld vorbei in ein Pinienwäldchen, das den Friedhof umgab. Sie kletterte über den altersschwachen Stacheldrahtzaun und stapfte an den Grabsteinen vorbei zu dem hohen Hügel auf der anderen Seite, wo der Friedhof an die anliegenden Kornfelder grenzte.
Sie betrachtete den Hügel einen Augenblick und ging dann um ihn herum zur Nordseite. Dort blies sie den Schnee von dem einfachen Schild, bevor sie sich darunter niederließ, im Windschatten vor dem sanften Nachtwind geschützt.
»Hallo, Papa. Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass ich vorbeischaue.«
Als Wasily Strugatski ermordet worden war, hatten die Kawaminamis die Verantwortung für seinen Leichnam und die gesamte Beerdigung übernommen – niemand sonst wusste, wie man seine Familie erreichen konnte oder ob er überhaupt eine Familie besaß. Und einer der Reporter, die mit der Polizei gekommen waren – Hjerold – schlug ein Wikingerbegräbnis vor.
»Damals schien es einfach eine gute Idee«, hatte Hjerold später erklärt.
Tetsuo wusste von Meredith, glaubte jedoch, sie lebe in London. Als er sie schließlich in Wien ausfindig machte, hatte sie bereits Hjerolds Leitartikel über den Mord gelesen, und als sie in Silvertown eintraf, war Wasilys Leichnam bereits eingeäschert worden. Die Feuerbestattung war ebenfalls Hjerolds Vorschlag gewesen, obgleich die Behörden eher aus Gründen der öffentlichen Hygiene zustimmten. Außerdem stellte sich noch die Frage der Präsentation der Leiche – ein offener Sarg oder ein geschlossener. Das war ein etwas unangenehmes Thema, da jedermann wusste, dass der Kopf noch immer fehlte. Eine schnelle, saubere Verbrennung und die Bestattung einer kleinen Dose voller Asche machte sich viel besser für das öffentliche Ansehen der unglücksseligen Polizei.
Nach ihrer Ankunft fragte Meredith Hjerold, warum er an der Sache so persönlichen Anteil genommen und wieso er eben jene Empfehlungen ausgesprochen habe.
Ersteres erklärte er mit seinem beruflichen Interesse – eine merkwürdige Geschichte in seiner Heimatstadt fesselte seine Aufmerksamkeit mehr als eine, die sich in Südamerika oder in einem anderen unbekannten Teil der Welt ereignet hatte. Die zweite Frage beantwortete er mit einem bereits bekannten Refrain, der ebenso zu Hjerold wie zum Zen gehörte: »Damals schien es einfach eine gute Idee.«
Meredith hatte später selbst nachgeschlagen und herausgefunden, dass Hjerolds Anregungen ihren Vater insgeheim ehrten: Für die Wikinger war die Feuerbestattung eine ausgefeilte Zeremonie, die hauptsächlich Kriegsherren, Königen und wahren Helden, so wie Beowulf, vorbehalten blieb. Der Tote wurde für das Begräbnis vorbereitet, indem man ihn mit den prächtigsten Kleidern, Pelzen, Armreifen und anderem Geschmeide schmückte. Die Waffen, Schilde und Trinkhörner oder Pokale des Helden wurden seiner Leiche ebenfalls beigegeben, da man glaubte, der Held werde sie in Walhalla benötigen.
Dann legte man den Toten unter freiem Himmel auf eine Bahre und zündete sie an. Während der Begräbnisfeier brachte man Trinksprüche zu Ehren des Verstorbenen aus. Gelächter und Tränen waren dabei gleichermaßen willkommen. Man erzählte sich Geschichten von seiner Tapferkeit im Kampf und andere Legenden über seine Heldentaten. Schließlich wurde die Asche des Helden zusammengekehrt und entweder über das Meer verstreut – bei einem seefahrenden Volk – oder in einem angemessenen Hügelgrab beigesetzt, das howe genannt wurde. Auf eben diese Weise war man bei Wasily verfahren.
Die Wikinger glaubten außerdem, dass ihnen auf dem howe eines Vorfahren in der Zwiesprache mit diesem das eigene Schicksal enthüllt werden konnte. Diese Sitte war keine Form der Totenbeschwörung, sie ähnelte eher der Weissagung oder der Meditation. Auch glaubte man, dass jeder, der eine Nacht lang auf einem Grabhügel verbrachte, ohne dabei den Verstand zu verlieren, mit dem Talent eines Barden gesegnet wurde – der Fähigkeit, Familiengeschichten und gereimte Lieder zu dichten und vorzutragen.
Meredith fand später heraus, dass Hjerold nach Wasilys Bestattung fast drei Wochen lang jede Nacht auf dessen Grabhügel geschlafen
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