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Der unsichtbare Mond

Der unsichtbare Mond

Titel: Der unsichtbare Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A. Owen
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»Es überrascht wenig, dass sie in vieler Hinsicht gleiche Interessen gehabt haben.«
    »Was hat Liszt mit Schubert zu tun?«, fragte Tetsuo.
    »Wahrscheinlich nichts«, sagte Hjerold, »aber aus der Zen-Perspektive – alles. Und die ganze Situation fühlt sich immer mehr nach Zen an.«
    »Wie das?«
    »Beim Zen geht es vor allem darum, Verbindungen herzustellen, die die meisten Menschen nicht sehen«, sagte Hjerold. »Der Mann, dem ich in Tibet begegnet bin, war Mathematiker, und die Kiste kam vom Institut für Mathematik der Universität Wien. Michael Langbein lehrte an dieser Universität und wurde von ihrem Rektor ermordet, während beide eine Aufführung von Wagners Ring-Zyklus störten. Michael hat Meredith dieses Pergament geschickt, das mit Anmerkungen von Wagner versehen ist, und zu Michaels Fachgebiet gehörten alt-isländische Schriftstücke. Dieses spezielle Blatt trägt die Handschrift eines berühmten Komponisten, genauso wie das meiste Material, das Shingo in der Kiste gefunden hat. Was mich zu der Frage führt, ob die ganze Sache nicht auf irgendeine Weise mit Musik zu tun hat.«
    »Aber wie passt dieses tibetisch-isländische Pergament ins Bild, von den Wagner-Notizen einmal abgesehen?«, fragte Tetsuo.
    »Hier unten steht es«, sagte Meredith, die weitergelesen hatte und nun so heftig zitterte, dass sie sich setzen musste. »Es ist unvollständig, also weiß ich nicht, in welche Richtung Liszts Interpretation führte. Aber gemeinsam mit Wagner hat er versucht, das Buch zu übersetzen, aus dem diese Seite stammt, und es… es…«, sie brach ab und blickte fassungslos auf das Pergament.
    Hjerold sprach in die Stille. »Dort steht, dass sie glaubten, die Schrift, die sie übersetzten, stamme von Snorri Sturluson, und dass dieser Text, den sie die ›Ur-Edda‹ nannten, das früheste Exemplar seiner Arbeit sei, das erhalten blieb. Wagner versuchte, eine historisch einwandfreie Version des Rings zu schreiben.«
    Tetsuo und Fuji waren völlig überwältigt. Meredith schien immer noch wie benommen.
    »Wenn Michael Langbein dieses Blatt für echt hielt, so wie ich«, schloss Hjerold ernst, »dann hätte er sein Leben dafür gegeben, einen Blick auf den Rest zu werfen.«
    »Vielleicht hat er das getan«, erklang eine Stimme aus der Dunkelheit, die sie umgab, »und wenn das so war, ist das in der Tat ein furchtbarer Verlust.«
    Meredith stand auf, als Shingo mit einer Kiste voller Papiere unter dem Arm und einem seltsam reservierten Lächeln auf den Lippen aus dem Magazin heraustrat. Er trat zu Meredith und gab ihr einen flüchtigen Kuss. Dann drehte er sich um und nahm am Tisch Platz.
    »Wie lange bist du schon hier?«, fragte Tetsuo. »Wenn wir gewusst hätten, dass du hier bist…«
    Shingo winkte ab. »Ist schon gut – ich war in einem der Lesezimmer. Ich brauchte ein wenig Ruhe, um diese Blätter hier durchzusehen.« Noch immer sah er Meredith seltsam an.
    »Ich möchte ein paar persönliche Dinge mit meiner Familie besprechen«, sagte Shingo und wandte sich an Hjerold. »Kannst du dafür sorgen, dass Meredith sicher nach Hause kommt?«
    »Klar«, sagte Hjerold und wandte sich an Meredith. »Hast du etwas dagegen, wenn ich das mit nach Hause nehme?« Er wies auf das Pergament. »Ich würde es gern genauer untersuchen.«
    »Nur zu.«
    »Danke. Also, gute Nacht alle miteinander«, sagte Hjerold, steckte das Blatt ein und winkte seinen Gastgebern zu. Während Tetsuo und Shingo sich im Flüsterton zu unterhalten begannen, brachte Fuji Meredith und Hjerold zur Tür und gab ihnen zum Abschied ein wenig von Delnas heißer Limonade mit.
    Sie liefen schweigend durch den frisch gefallenen Schnee, der unter ihren Schritten knirschte, bis sie in Sichtweite von Merediths Haus waren. Dann sagte Hjerold besorgt: »Reedy, ich hoffe, du denkst nicht, dass ich vorhin etwas vor euch verbergen wollte. Ich meine, ich möchte, dass du mir vertraust.«
    »Ich vertraue dir, Hjerold«, erwiderte Meredith und griff beruhigend nach seinem Arm. »Ich weiß, dass du uns nichts verschweigen würdest, was uns schaden könnte.«
    »Das würde ich nicht.«
    »Dann gibt es keinen Grund sich Gedanken zu machen. Ich meine, läuft im Zen nicht letztendlich alles gen Null, ohne Schaden oder faule Tricks?«
    Hjerold hielt inne und blinzelte sie an, bevor er antwortete. »Ja«, sagte er schließlich bedächtig, »aber nicht jeder definiert Null auf die gleiche Weise.«
    Er drückte ihren Arm und ging die Straße hinunter, den Umschlag mit

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