Der unsichtbare Mond
waren allerdings mit ihrem Zustand recht zufrieden.«
Sie hatten die Umzäunung erreicht und Herold deutete auf den Boden.
»Da. Schau dir das an und sag mir, was du siehst.«
»Sieht aus wie Pfotenabdrücke. Olys vielleicht.«
»Nein. Oly hat nur drei Beine. Und was immer diese Spuren hinterlassen hat, ist um einiges größer als Oly.«
»Was dann?«
Er lehnte sich gegen den Zaun und blickte hinaus in die Dunkelheit jenseits des Stadtrandes. »Wölfe, Reedy. Ich glaube, es waren Wölfe.«
Meredith war bereits lange genug im St. Lawrence County um zu wissen, dass es hier einmal Wölfe gegeben hatte – etwa um 1820. Als die Schifffahrtswege ernsthaft in Betrieb genommen wurden und die Gemeinden entlang des Flusses aus dem Boden schossen, wanderten die Wölfe ab oder starben aus. So weit sie wusste, war in der Nähe von Silvertown schon seit dem Ersten Weltkrieg kein Wolf mehr gesichtet worden.
Meredith blickte zu Herold auf und stellte eine Frage, von der sie wusste, dass sie nicht eben intelligent war. Sie stellte sie trotzdem, weil sie zu wissen befürchtete, wie seine Antwort und deren Begründung lauten würden. »Du denkst nicht, dass die Einheimischen von Wölfen getötet wurden, oder?«
»Nein«, sagte er bedächtig. »Ich denke, dass die Einheimischen zu Wölfen werden.«
Daran hatte Meredith eine Weile zu kauen, während sie die Umzäunung entlang wanderten und sich weiter vom gedämpften Licht der Stadt entfernten. Alle paar Meter blieb Herold stehen und betrachtete die Spuren, deren Anzahl langsam zunahm. Es schienen jetzt mindestens ein Dutzend Tiere zu sein – und was immer sie sein mochten, sie waren groß.
Vielleicht groß genug, um einem Menschen in die Augen zu blicken.
»Was hat dich darauf gebracht, nach Wolfsspuren zu suchen?«, fragte Meredith. »Die Erwähnungen von Wargen inder Wölsungensaga?«
»Damit hat es sicherlich angefangen«, erwiderte Herold. »Aber dieser Schnösel von einem Bibliothekar hat mich wirklich nachdenklich gemacht. Klassische Anzeichen von Lykanthropie – von der Sache mit den Schafen einmal abgesehen. Das war mit Sicherheit eine neue Variante.«
Beide lachten und blieben dann erschrocken stehen. Vor ihnen auf dem Boden endeten die Spuren abrupt in einem Massaker aus Blut und Schmutz, Schnee, Stofffetzen und Knochen. Die Wölfe waren nicht einfach nur ziellos umhergelaufen, sie hatten etwas verfolgt.
Herold stand da und betrachtete das Gemetzel. Dann streckte er die Hand aus und nahm einen Stofffetzen vom Zaun. Er war blassblau und wies einen silbernen Manschettenknopf auf, der die Initialen SM trug.
»SM. Stephen Moore«, sagte Herold.
»Der Typ mit den Flipperautomaten? Aus dem Flugzeug?«
»Ja«, sagte Herold. »Aus irgendeinem Grund muss er versucht haben, nach Brendan’s Ferry zurück zu gelangen, und es hat ihn draußen im Freien erwischt.«
»Verdammtes Pech«, sagte Meredith und blickte viel sagend auf das Blut im Schnee.
In diesem Augenblick erhob sich ein tiefes, klangvolles Heulen um sie herum in die Luft. Sie erstarrten und lauschten, während ihre Augen die Dunkelheit absuchten. Dann packte Herold Meredith am Ärmel und wies auf eine Erhebung direkt vor ihnen.
Entlang des Grats erschien ein Augenpaar nach dem anderen: tiefrot und leuchtend. Ein witterndes, schnüffelndes Geräusch erfüllte die Nachtluft.
Wölfe.
Sie beobachteten Herold und Meredith stumm und warteten darauf, dass diese einen Entschluss fassten. Aus den Augenwinkeln konnte Meredith sehen, wie sich Schatten bewegten – die unruhigen jüngeren Mitglieder des Rudels, die begierig darauf waren, über ihre Beute herzufallen.
Unvermittelt zerriss ein wildes Heulen die Stille. Alle Wölfe stimmten ein, bis der Furcht erregende Klang im ganzen Tal widerhallte. Meredith und Herold blickten einander an – ihre Zeit war abgelaufen. Die Wölfe hatten ihnen die Entscheidung abgenommen.
Sie drehten sich um und rannten los.
KAPITEL SECHS
Saturnstag
Seltsam, wie unheimlich still die Verfolgung der zweibeinigen Beute durch die vierbeinigen Jäger nach dem anfänglichen Lärm wirkte. Das Knirschen unter ihren Stiefeln, während sie über die verkrustete Schneedecke liefen, das rasselnde Geräusch ihres eigenen Atems in ihren Ohren, ihr pochendes Blut – all das überdeckte beinahe die Geräusche der rasch galoppierenden grauen Mordmaschinen, die die flüchtenden Menschen im Visier hatten und immer näher kamen. Glücklicherweise hatte der Wind zugenommen und den ganzen
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