Der unsichtbare Zweite
sich trotz unvermeidlicher Divergenzen liebzuhaben, oder vielleicht sollten sie auch ausdrücken, dass in der Politik niemandem eine Umarmung verweigert wird, oder waren sie etwa als Beispiele für »Vorsichtsdefizite« gedacht?
Wie auch immer, bald erschien die Assistentin wieder, und während wir über den Korridor gingen, sah ich ganz kurz eine korallenfarbene Wolke, einen duftigen weiten Rock in einer Tür weiter hinten verschwinden, in der 9 oder 10. Wer konnte das sein? Ich dachte an Onorevole Palmucci, die der Vamp von Montecitorio genannt wird und die einmal mit nacktem Oberkörper (gar nicht übel) fotografiert wurde, wie sie ein Pferd mit einer Karotte futterte. Nur stellte sich dann heraus, dass die Karotte politisch unkorrekt war, denn sie kam vom Landgut eines flüchtigen Camorra-Bosses und war von sich illegal in Italien aufhaltenden unterbezahlten Schwarzarbeitern geerntet worden. Die arme Palmucci, stellte ich mir vor, kam zu einer Therapie der Skandalüberwindung hierher, die vielleicht in der kontrollierten Anwendung von Gesichtsmasken aus ganz dünner stone -Masse bestand.
Doktor Danieli erwartete mich am Schreibtisch sitzend. Die elegante Designerbrille war ihr auf die Nasenspitze gerutscht, und darunter formten ihre Lippen ein süßliches Lächeln. »Sie sind hier, um zur Freundlichkeit zurückzufinden, nicht wahr, Onorevole?«
Sie drückte auf etwas in einer Schublade, und leise ertönte Only you, von den Platters gesungen.
»Ist Ihnen das als musikalischer Background angenehm? Oder hätten Sie lieber ein neapolitanisches Lied oder ein französisches Chanson wie zum Beispiel Parlez-moi d'amour?«
»Aber ich bitte Sie«, sagte ich etwas verdutzt, »das sind alles sehr schöne Lieder, aber mein ...«
»Ja, gewiss, ich verstehe, Ihr sentimentaler Knackpunkt liegt anderswo, ist es bei Ihnen vielleicht die Internationale'? Oder ein Weihnachtslied?«
»Nein, es ist mein Problem, das anderswo liegt.«
Das süßliche Lächeln verschwand, die Brille rutschte wieder hinauf.
»Entschuldigen Sie, aber sind Sie nicht der, den der Finanzminister geschickt hat, der übrigens selbst mit ermutigenden Ergebnissen diese Therapie macht?«
»Nein, ich bin der, den Migliarini geschickt hat. Ich bin Slucca, Aldo Slucca.«
Die Frau Doktor beschäftigte sich einen Augenblick lang mit dem Computer auf ihrem Schreibtisch.
»Ach ja, da haben wir's. Slucca: Konsensdefizit.«
»Genau.«
Sie stellte die Platters ab, nahm die Brille runter, und ihre so entblößte Nase sah plötzlich aus wie das Ruderblatt eines Rettungsboots.
»Die grassiert, diese Sorte Defizit«, sagte sie, als spräche sie von einem Grippevirus. »Aber ist Ihres chronisch oder ist es noch ...? Erzählen Sie mal ein bisschen!«
»Es war ein ganz scheußliches Defizit, Frau Doktor.« Ich erklärte ihr die Sache mit der halben Infrastruktur. »Und als der Vizebürgermeister meinen Namen ausgesprochen hat, war plötzlich die Hölle los.«
»Als gälte die Wut Ihnen, Ihnen als Slucca persönlich? Das könnte auch ein positives Symptom sein.«
»Vielleicht, aber mir ist das ganz unverständlich gewesen, denn ich war doch noch nie in der Gegend dort, ich habe keine Feinde in den Drei Venetien, niemand kennt mich. Und schließlich war ich der Überbringer eines feierlichen Versprechens, eines konkreten Engagements.«
Dr. Danieli ließ langsam den Finger über ihr Ruderblatt gleiten. »Sagen Sie mir, Onorevole, haben Sie einen Konflikt mit Ihrem Namen?«
»Wie meinen Sie das?«
»Betrachten Sie ihn als negativen Namen, als den Namen eines Verlierers? Würden Sie gern anders heißen?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Haben Sie sich je vorgestellt, nur so, als Tagträumerei, Sie hießen, sagen wir, Napoleon, Alexander der Große, Batman?«
»Nein, nie.«
»Nicht einmal als Kind?«
»Nein, als Kind mochte ich Goofy.«
Frau Doktor überlegte. In der Stille hörte man ein Krachen und Klirren über unseren Köpfen. Auf dem Dachboden musste wieder einer wie Percivalle in die Spiegel gedonnert sein.
»Stehen Sie auf.«
Ich stand auf.
»Jetzt sagen Sie: Ich bin Slucca.«
»Ich bin Slucca.«
»Nicht so, das ist viel zu zögernd, das klingt ja wie ein Geständnis. Sagen Sie es mit mehr Überzeugung.«
»Ich bin Slucca!«
»Jetzt sagen Sie: Ich bin Slucca und will eine Karte für das Endspiel der Champions League.«
»Das hat keinen Sinn, das kriege ich nicht hin, ich gehe nie zu Fußballspielen.«
»Ich bin Slucca und will einen Parkettplatz
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