Der unsichtbare Zweite
Tendenzinversion entstehen, es wird ein Moment kommen, der wieder dem vollen, totalen, absoluten Konsens gehört. Und Sie müssen sich für diesen Tag bereithalten, Onorevole.«
Ich starrte auf Hitler, der jetzt stumm mit den Armen fuchtelte, und sagte: »Ich sehe mich da einfach nicht.«
»Andere werden sich da aber sehen, darauf können Sie Gift nehmen«, prophezeite die Danieli wissenschaftlich. »Und Sie, Onorevole, sollten in Ihren bescheidenen Verhältnissen ebenfalls auf diesen schicksalhaften Moment, auf diesen geheimnisvollen Klick hinarbeiten. Sie sind immerhin Slucca, vergessen Sie das nie. Für den Anfang stelle ich Ihnen jetzt die Aufgabe, diesen Namen zu tragen wie einen Wimpel, wenn Sie hier rausgehen. Sie werden die nächste Cafebar betreten und zu dem Mann hinter der Theke sagen: Ich bin Slucca und will einen Espresso! «
»Aber das ist doch nicht nötig, Espresso kriege ich immer, solange ich bezahle.«
»Aber so wärmen Sie die Muskeln Ihrer Persönlichkeit auf, trainieren Sie sich eine glaubwürdige Unverfrorenheit an, spitzen Sie den Bleistift Ihres Charismas. Es ist eine Frage der Haltung, der Stimmführung, der Gestik. Der Klick wird auch für Sie kommen, seien Sie dessen gewiss. Wir sehen uns nächste Woche wieder, gleiche Zeit.«
Sie stand auf, kehrte zum Schreibtisch zurück, klingelte. Die Assistentin erschien und begleitete mich den Korridor entlang. Ich fühlte mich ein bisschen benommen, wie wenn man aus der Galleria Borghese herauskommt: Von all diesen Meisterwerken des Konsens war mir fast schwindlig geworden.
Vorn in der Eingangsdiele neben dem Glaskasten der Sekretärin sah ich wieder die Rückseite der korallenfarbenen Wolke, Onorevole Palmucci in ihrem duftigen Rock, das glaubte ich wenigstens von weitem. Doch als ich näher kam, hörte ich die Sekretärin am Telefon sagen: »Tango 34 in sechs Minuten«, und die Palmucci wandte mir das Profil zu, blickte auf die Uhr und war überhaupt nicht die Palmucci, sondern ein vierschrötiges Riesenweib, das nun anfing, den Kopf zu wiegen und leise einen alten romantischen Schlager zu singen: »Verliebtes Kiiind ... heut Nacht geschwiiind ...«
Es war Minima Malvolio, voll im Training zur Wiedererlangung der Freundlichkeit.
»Hab ich im Traume dich geküüüßt ...«
Sie sah mich, brach ab, strahlte auf.
»Slucca! Liebster!«
Mit ihren roten Schühchen machte sie eine Art Tanzschritt, breitete die Arme aus, öffnete die Lippen zu der Art Lächeln, das sich gleich in einen feuchten Kuss verwandeln wird. Dann steckte sie die Hand in ein mit bunten Perlen besticktes Täschchen und sagte: »Komm her, Slucca, ich hab was für dich.«
Blitzartig sah ich wieder die poissarde von der aufgelassenen Baustelle vor mir, sah die Hand, die etwas nach mir werfen wollte, und dann spürte ich den Klick, in mir hatte der geheimnisvolle Funke gezündet. Ich sprang auf einen Sessel und donnerte in voll invertierter Tendenz auf Deutsch: »EIN VOLK! EIN REICH! EIN SLUCCA! «
Minima erstarrte. Mit verdutztem, in diesem Moment schwimmendem Blick blickte sie mich an, viele Türen gingen auf, der Wächter (der keinen Nicht-Parlamentarier hereinlässt, damit die gemeinen Wähler nicht etwa falsche Vorstellungen von uns Erwählten kriegen) kam mit langen Schritten auf mich zu. Das in himmelblaues Lackpapier gewickelte Schokoladebonbon war auf den Korridorboden gerollt. »Aber Slucca, Schätzchen, hier liegt ein grundlegendes Missverständnis vor, ich wollte dir doch ...«
Der Wächter packte mich beim Arm und führte mich hinaus, auf dem Treppenabsatz rief er den Aufzug.
»Nein, danke«, stammelte ich, »ich gehe zu Fuß hinunter.«
Zu Hause hat Vasone dann fröhlich gelacht. »Die arme Frau, sie wollte dir bloß ein Bonbon schenken! Jetzt wirst du ihr zur Entschuldigung einen schönen Blumenstrauß schicken müssen, und wer weiß, was sich daraus noch entwickelt.«
»Aber was denkst du, den Schock habe auch ich gehabt, so ganz in Rosa hat die mich völlig destabilisiert.«
»Nimm das Telefon und singe ihr ein Friedenschanson, was du willst, zum Beispiel La vie en rose ...«
»Mit der habe ich lieber Krieg, das macht mir weniger angst.«
»Heil Slucca!« sagte darauf Vasone und hob seine japanische Bierdose. Und eine Zeitlang haben die Witzigeren in der Cafeteria des Montecitorio mich dann auch mit »Heil Slucca« gegrüßt, unter freundlichem Erheben der Teetasse oder des Mineralwasserglases. In das psychoparlamentarische Zentrum bin ich nicht
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