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Der unsichtbare Zweite

Der unsichtbare Zweite

Titel: Der unsichtbare Zweite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlo Fruttero
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wieder gegangen, Konsens hin oder her.

SLUCCAS ROMAN
    »DIE EXKREMENTE, SLUCCA«, SAGTE MIGLIARINI, »Waren für mich wichtig, die will ich absolut drin lassen.«
    Das war eine absolut nicht unberechtigte Äußerung, da Migliarini bei seinen Feinden und auch bei einigen seiner Freunde im Rufe steht, sich in diesem Element durchaus heimisch zu fühlen. Doch hier handelte es sich um Literatur, wir saßen im Caffe Greco in der Via Condotti unter den feierlichen Schatten von Leopardi, Goethe, Byron und Stendhal, und zwischen uns, auf dem marmornen Beratungstischchen, lag Migliarinis Roman. Jahr um Jahr hatte die Entstehung in den seltenen Mußestunden und unter Wahrung absoluter Zurückhaltung gedauert (»Ich arbeite an einer eigenen Sache«, war alles, was er mir anvertraut hatte); und jetzt lag er endlich hier vor uns, zweihundert -siebenunddreißig ausgedruckte Seiten, bereit für eine flächendeckende Analyse, die einer Kontrolle von dreihundertsechzig Grad vor der definitiven Überarbeitung vorausgehen sollte.
    »Ein Roman, Slucca«, hatte er mir ein paar Tage zuvor gesagt, »unterscheidet sich in dieser Phase nicht von einem Gesetzesentwurf für den Bau eines Tunnels unter dem Vesuv, er erfordert, dass die Parteien sich beraten, sich zur Absprache an einen Tisch setzen, und ein Tisch im Caffe Greco, wo schon Gogol und Wagner gesessen haben, um nur einige zu nennen, scheint mir die optimale Wahl.«
    Das Buch sollte bei einem wichtigen Verleger Norditaliens erscheinen, der Onorevole Bazzecca nahestand und ein intimer Freund Onorevole Fabiocchis war, und aus dem Norden war zu dieser Verhandlung die verantwortliche Lektorin (editor im heutigen Italienisch) nach Rom gekommen, die sich bereits Wochen und Monate mit dem Text beschäftigt und unzählige Faxe und Anrufe mit dem Autor gewechselt hatte. Sie hieß Beatrice (»ein dantesker Name, ein optimales Vorzeichen«, meinte Migliarini) und war eine dünne, blonde elegante Frau, die jedoch aussah wie jemand, der mitten in der Nacht hochschrickt, weil er wieder von seiner trostlosen Kindheit im Waisenhaus geträumt hat. Sie sprach mit leiser, schleppender Stimme, als müsste sie bei jedem Wort bremsen.
    »Ja«, flüsterte sie, und jedes Ja war wie ein Nein, das eine lange, schwierige Operation zur Geschlechtsumwandlung hinter sich hatte. »Ja, gewiss, ich verstehe, Onorevole, aber beim nochmaligen Wiederlesen, als ich gestern Abend im Hotel die Seite noch einmal durchgegangen bin, ist mir doch ein Zweifel gekommen, ob so, ausgerechnet am Anfang ...«
    Auch sie hatte einen Ausdruck des Textes vor sich, der an den Rändern mit Fragezeichen, Kreuzen, Kreuzchen, grün eingekringelten Wörtern übersät war.
    »Heiliger Himmel noch mal, muss denn ich euch sagen, dass das Proust ist?« empörte sich Migliarini. »Das ist die proustsche madeleine am Anfang der Recherche, das gleiche überwältigende Riecherlebnis, die gleiche evokative Funktion! Das ist alles miteinander verknüpft, tout se tient, Slucca! Als Alexander an der Scuola Normale von Pisa seinen ersten Doktor gemacht hat, beschließt er spontan, wieder einmal zum Bauernhof der Großmutter zurückzukehren, der inzwischen zu einem von zwei Hamburger Homosexuellen betriebenen agrotouristischen Zentrum geworden ist. Könnt ihr mir bis dahin folgen?«
    »Voll und ganz«, bestätigte ich.
    »Gut. Und nun kommt der flashback. Alexander ist oben in seinem ehemaligen Zimmerchen, das natürlich völlig umgestaltet wurde, bis auf das Eisenbett, das noch das von damals ist. Erstes Glied der Kette, richtig?«
    »Richtig.«
    »Gut. Es ist Abend. Er liegt auf dem Bett, das Fenster steht offen, und die beiden Deutschen unten fangen an, Musik zu machen, Violine und Flöte, eine Schubertsonate, die nun die herzzerreißende Serie der Erinnerungen in Gang setzt. Und von wo an?«
    Migliarini fixierte erst den (oder in diesem Fall die?) editor und dann mich, als wollte er uns herausfordern. Wir blieben stumm wie die Fische. Darauf nahm er die zur Diskussion stehende Seite und fing an vorzulesen: » Alexanders Herz klopfte sanft wie zur Begleitung der Musik, und zugleich kehrte in seine Wahrnehmung der vergessene Geruch der Hühnerexkremente zurück, der vom Hof aufstieg und ihn in eine Art r ätselhafte, einlullende Benommenheit versetzten. In Wirklichkeit waren auch ein paar Truthähne dabei, aber die habe ich in der zweiten Fassung gestrichen, sie waren nicht unbedingt erforderlich. Also, Slucca, was meinst jetzt du dazu?«
    Ich

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