Der unsichtbare Zweite
Vergewaltigung, wenn ich mich richtig erinnere, oder vielleicht war das Thema auch das dritte Jahrtausend, jedenfalls vor fast drei Millionen Zuschauern habe ich einem Rocksänger zu seinem letzten Album gratuliert, aber es war ein Bischof. Was willst du, er hatte auch so eine dunkle Jacke an, so eine silberne Kette um den Hals, so ein leidendes Gesicht, das gleiche Alter, denn diese Rockstars sind ja jetzt alle um die Sechzig ... Zum Glück hatte der Mann Humor, er streckte mir spontan den Ring zum Küssen hin.«
Das Fernsehen sei eben tatsächlich voller Fallen und Fußschlingen, bestätigte mir Migliarini auf der Parkbank der Villa Borghese, und außerdem hätte ich nicht den physique du role, oder, genauer gesagt, der physique sei eben, wie er sei, aber welcher role möglicherweise dafür in Frage komme, das übersteige die menschliche Vorstellungskraft.
»Aber wenn die Menge anwesend ist, wenn sie dich lebendig und warm umgibt und nur darauf wartet, sich manipulieren zu lassen, dann müsstest auch du eine Chance haben, es handelt sich einfach darum, ein wenig daran zu arbeiten, die geeigneten Techniken zu studieren.«
»Und bei wem? Bei Cicero? Chez Demosthenes?«
Migliarini lächelte geduldig. »Slucca, du kennst doch bestimmt Frau Doktor Danieli ...«
Vom Sehen und Hörensagen ja, aber nicht persönlich. Sie leitet ein Zentrum für psychoparlamentarische Therapie am Mellini-Ufer, das viele von uns aufsuchen. Sie wendet innovative, nonkonformistische Methoden an und kämpft seit Jahren für die Aufnahme der Politik in die Reihe der vom Gesundheitsministerium anerkannten krankmachenden Tätigkeiten. Eine zierliche, energiegeladene Frau mit einer bemerkenswerten Schnabelnase, über die sich sogar Vasone anerkennend äußert. »Wer auch immer dafür ist, dass ein Politiker einem Asbestfasern ausgesetzten Bergmann gleichgestellt wird, hat meine Hochachtung«, sagt er. »Die Schäden sind gleichermaßen irreversibel.«
»Eine außergewöhnliche Frau, Slucca, ich selbst gehe zweimal im Jahr dorthin, um mit den Spiegeln in Übung zu bleiben.«
»Mit was für Spiegeln denn?«
»Auf dem Dachboden hat die Danieli eine Spiegelgalerie eingerichtet, einen ziemlich engen Gang aus lauter Spiegeln, in dem man fechten muss. Ich will ja nicht angeben, aber ich winde mich da mit meinem Degen durch wie ein Wiesel, während der arme Percivalle beim Ausweichen immer mit dem Hintern aneckt und das Glas zerdeppert, er ist einfach nicht begabt.«
»Aber auch ich bin nicht fürs Spiegelfechten begabt. Allein bei der Vorstellung, einen Degen in die Hand zu kriegen, fange ich an zu zittern.«
»Ich weiß, Slucca, ich habe das nur erwähnt, um zu erläutern, dass die Danieli eine spezifische Technik für jedes Problem hat, und dein Problem heißt Konsensdefizit . Sie wird auch für dich eine Strategie finden, du solltest dich einmal mit ihr unterhalten.«
Am Ton seiner Stimme wurde mir klar, dass er schon alles arrangiert hatte. »Hast du schon alles arrangiert?«
»Ja, sie erwartet dich übermorgen um 15.30 Uhr zur ersten Sitzung. Es ist eine Leistung, auf die du als Parlamentarier Anspruch hast wie aufs Haareschneiden oder auf Massagen, du bekommst achtzig Prozent der Kosten erstattet. Es lohnt sich, einen Versuch zu machen, Slucca, geh da ruhig hin.«
Zu Hause hat Vasone mich ein bisschen ermutigt, als er mich an den Fall von Onorevole Pocopane erinnerte, der zur Mehrheit gehörte, aber wenn es zur Abstimmung kam, einem unbezähmbaren Zwang gehorchend, immer für die Opposition stimmte. Eine Perversion, die Frau Doktor Danieli brillant dadurch kurierte, dass sie ihn lehrte, auf den Händen zu laufen.
So ging ich schließlich hin, ohne mir allzu große Illusionen zu machen. Das Psychoparlamentarische Zentrum erstreckte sich über eine ganze, durch einen langen Korridor in zwei Hälften geteilte Etage. Die Wände waren blassblau, die Türen türkis. Links waren die Türen nummeriert, und rechts gegenüber lagen den Nummern entsprechende kleine Wartezimmer, um die privacy der Patienten zu wahren. Dasjenige, in das mich eine Assistentin in weißem Kittel führte, lag der Nummer 5 gegenüber und war mit historischen Umarmungen tapeziert: Ich erkannte das Foto des Liberalen Giolitti, der den Sozialisten Bissolati umarmt, Mussolini, der Vittorio Emmanuele III. umarmt, Stalin, der Trotzkij umarmt, Hitler, der Rommel umarmt. Die Absicht, die hinter diesen Fotos steckte, war mir nicht ganz klar, vielleicht einfach eine Aufforderung,
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