Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der unsichtbare Zweite

Der unsichtbare Zweite

Titel: Der unsichtbare Zweite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlo Fruttero
Vom Netzwerk:
ich, und in Bezug auf das Problem der Jugend und ihrer Triebe hat unsere Partei immer einen höchst verständnisvollen Standpunkt eingenommen. »Die Jugend, Slucca«, erinnert Migliarini mich oft, »ist unsere Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft, in die Jugend müssen wir investieren, nicht in den asiatischen Börsenmarkt. Ich will mich gewiss nicht als Beispiel hinstellen, aber es ist eine Tatsache: Wenn ich in meiner Jugend nicht Menschen gefunden hätte, die trotz allem an mich geglaubt haben, wäre ich heute vielleicht höchstens Fernsehkritiker bei einer Provinzzeitung oder Koch in einem fast food oder auch - ich will nichts ausschließen - Zuhälter von zwei, drei ukrainischen Prostituierten. Ist das Konzept damit klargeworden?« Dieses allerdings als alternativ zu bezeichnende Konzept, nämlich dass wir im Hinblick auf eine bessere Gesellschaft zwei Millionen kleiner Migliarinis aufziehen und ermutigen sollten, schien mir nicht ganz das zu sein, was man gemeinhin konsensträchtig nennt, aber die vereinzelten jugendlichen Pfiffe auf der aufgelassenen Baustelle hatten mich nicht besonders beunruhigt.
    Als jedoch der Vizebürgermeister meinen Namen nannte, gab es plötzlich einen Qualitätssprung, und zwar einen der schlechten Sorte. Es erhob sich ein Chor, der eines demokratischen und zivilen Landes unwürdig war, Gebrüll, Beschimpfungen, obszöne Geräusche, und einen Augenblick später hagelte es auch schon Eier, Erdschollen, Gemüse im Zustand fortgeschrittenen Verfalls, Getränkedosen und Plastikflaschen, zum Glück leer, Käserinden, Kartoffelschalen, das alles unter Spritzern von H-Milch. Kurz, es war ein beeindruckender Zusammenfluss von unsortierten Abfällen. Meine Überraschung war so groß, dass ich eine gute halbe Minute wie gelähmt dastand, ein leichtes Ziel für diese Werfer, unter denen nicht nur Jugendliche waren, sondern Leute jeden Alters, Frauen, Kinder, alle gleichermaßen aufgebracht und einem verantwortungsvollen Dialog unzugänglich. Ich hatte keine Wahl: Mir blieb nur ein Sprung durch die herumfliegenden Apfelschalen und -butzen an Bord des Autos des Vizebürgermeisters, und nichts wie weg.
    »Doch, du hattest eine Wahl, Slucca. Du hättest die Situation wieder unter Kontrolle bekommen können und müssen«, sagte Migliarini anklagend.
    »Und wie denn, bitte, entschuldige mal? Die dort waren schon näher gerückt, die suchten die physische Auseinandersetzung. Da war eine Alte mit verrutschtem Gebiss, die ist mit einer Packung verdorbener Bechamelsoße dahergelaufen und hat gebrüllt: Das ist für dich, Slucca! Sie hat mich an der Schulter erwischt, und ich garantiere dir, die konnte man nicht wieder unter Kontrolle kriegen, so eine nicht!«
    »Eine traditionelle Gestalt aus dem Volk, Slucca«, minimierte Migliarini, »ich würde sagen: eine historische Gestalt; die klassische poissarde, das Fischweib der Französischen Revolution, immer vorneweg, bei jedem Auflauf. Du brauchst nur ihren Konsens zu gewinnen, und die Menge wird folgen. Ein Danton hätte die Situation in fünf Minuten umschlagen lassen.«
    Aber warum hatte Danton dann, mit allem Respekt gesagt, den Karren, der ihn zur Guillotine fuhr, nicht umschlagen lassen?
    »Als erstes, Slucca, muss man sich eine erhöhte Position suchen, auch wenn man improvisieren muss.
    Du hättest auf einen Steinhaufen springen können, auf eine leere Kiste, was weiß ich, und schon hätten die auf dich gehört.«
    »Aber dort war nur eine verrostete Betonmischmaschine, mit mir obendrauf hätte die zu schaukeln angefangen, ich hätte das Gleichgewicht verloren.«
    »Du hättest auf das Auto des Vizebürgermeisters klettern können, wie Tribunen, Generäle, Volksführer es so oft getan haben, und von dort hättest du dann deine Rede gehalten.«
    Er sprang auf die Bank und hob den Zeigefinger: »Mitbürger, Freunde, Römer, hört mich an! Begraben will ich Cäsarn, nicht ihn preisen!« deklamierte er in einem Ton, der, mit allem Respekt gesagt, eher einer Versammlung von Straßenbahnern als dem Drama von Shakespeare angemessen war. Doch er war nun einmal in historisierender Stimmung, erst Paolina, dann Danton, jetzt Cäsar und Antonius. Ein Hund blieb mit witternd erhobener Nase stehen, eine junge Frau im Joggingdress verlangsamte ihren Lauf, und er setzte sich wieder neben mich.
    »Verstehst du, was ich sagen will, Slucca?«
    »Aber die wollten mich begraben, ich sage dir, es waren alle Voraussetzungen fürs Lynchen gegeben.«
    »Die Menge ist

Weitere Kostenlose Bücher