Der unsichtbare Zweite
hüstelte diskret. Ich hatte den Roman selbstverständlich schon gelesen und war in meiner Eigenschaft als Durchschnittsleser zum Beratungstisch geladen worden. »Als Kritiker bist du inexistent, Slucca«, hatte Migliarini mir erklärt. »Aber als Durchschnittsleser kannst du einen Beitrag leisten, hoffe ich doch.« Und in meiner Eigenschaft als Durchschnittsleser hielt ich es für angebracht, jedes Mal diskret zu hüsteln, bevor ich etwas sagte.
»Tja, also, unsere Freundin hier sieht vielleicht eine Diskrepanz, einen möglichen Gap zwischen dem doch etwas scharfen, stechenden Geruch der Hühnerexkremente und der Tonalität oder, sagen wir, der hohen elegischen Stimmung dieser Passage. Vielleicht wäre Dung schon ein bisschen, wie soll ich sagen ...?«
Migliarini platzte los: »Dung! Ja, hast du denn eine Ahnung, was Dung bedeutet, Slucca?«
»Ah, so in großen Zügen ...«
»Das bedeutet Vieh, Slucca! Das bedeutet einen Stall voller Kühe, Ochsen, Ziegen, möglicherweise sogar ein Pferd. Und die Großmutter war doch arm wie eine Kirchenmaus, ihr einziger Reichtum waren die Hühner. Ja, einen Dunghaufen zu haben, Slucca, das wäre was gewesen!« Er steckte sich ein Petitfour mit einer kandierten Kirsche in den Mund, kaute mit in die Ferne gerichtetem Blick.
Das Buch (das verschiedene vorläufige Titel hatte) war keine Autobiographie, sondern ein Bildungsroman mit autobiographischem Hintergrund. Der Protagonist hieß Alexander Farnese Faliero (de la Tour du Säule) und hatte einen großen Teil seiner frühen Kindheit bei dieser kirchenmausarmen Großmutter verbracht, die eine außergewöhnliche Frau war. Die Mutter befand sich immer auf Reisen, und der Vater lebte irgendwo in Mittelamerika, wo er nach versunkenen Galeonen und deren Goldladungen suchte.
»Wenn ich an jene Jahre zurückdenke«, vertraute uns Migliarini, sein Petitfour hinunterschluckend, an, »erinnere ich mich an eine glückliche Zeit. Großmutter hat es mir nie an etwas fehlen lassen, da hat es nicht dieses trostlose industriell gefertigte Gebäck gegeben, sondern Pinienkernplätzchen, Rosinenbrot, Kastanienkuchen mit frischer Ricotta darauf, ach, davon macht ihr euch keine Vorstellung.«
Eine gewisse Vorstellung machten Beatrice und ich uns inzwischen schon, denn der Kastanienkuchen kam siebenmal vor, und es war nicht leicht gewesen, Migliarini dazu zu bringen, ihn auf Seite 66 und Seite 181 zu streichen. »Aber das ist keine Wiederholung«, protestierte er. »Das ist ein Leitmotiv. Das ist das Symbol des Italien von damals, eines einfachen, gesunden Landes, in dem man hart gearbeitet hat und noch die bescheidensten Dinge zu genießen wusste, ein Stückchen Pecorino, eine rohe Zwiebel mit ein bisschen Olivenöl, eine Vollmondnacht.«
Dieses Kind Alexander (von der Großmutter Sandrino genannt) wanderte jeden Sonntag barfuß drei Kilometer zur Kirche, um bei Don Emilio zu ministrieren. Doch der (oder die?) editor hatte ihm aus Gründen der Wahrscheinlichkeit Schuhe angezogen: 1955 hätten auch die ärmsten Kleinbauern in den entlegensten Landstrichen schon Schuhe gehabt, meinte sie, wenn auch minderer Qualität. Migliarini war nicht einverstanden, er behauptete, die Wirkungen des Wirtschaftsbooms seien erst viel später auf dem Land angekommen, er hatte einen Kompromiss mit Holzschuhen vorgeschlagen, sich dann aber in die Schuhe fügen müssen, als Beatrice ihn auf den Widerspruch aufmerksam machte, dass ein Kind mit einer so großzügigen Mama sich die armen Füßchen wundlaufen sollte.
Sandrinos Mama besuchte ihn regelmäßig alle zwei Wochen, manchmal allerdings auch nur einmal im Monat. Sie stieg vor dem Hof aus einem langen grauen Lancia, streckte die Arme aus und drückte ihr Kind an sich. Sie war wunderschön und faszinierend. Alexander erinnerte sich an ihr berauschendes Parfüm, an die Seide ihrer Sommerkleider, an ihre weichen Pelze im Winter. Sie brachte immer wunderbare Geschenke mit, Spielzeug, eine goldene Armbanduhr, Süßigkeiten, bunte Schlafanzüge und Pullover (und folglich, durch Induktion ableitbar, wohl auch Schuhe), dazu viele Souvenirs von ihren Reisen, den Mailänder Dom, den Turm von Pisa, eine venezianische Gondel, das Kolosseum, alles perfekte Nachbildungen aus Glas, Messing, Alabaster, die der Kleine auf einem groben Wandbrett aufstellte und andächtig hütete. Sandrino betete diese auftauchende und wieder verschwindende Mutter an, schlief bei ihr ihm Ehebett, weinte bitterlich, wenn er sie am nächsten Tag
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