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Der unsichtbare Zweite

Der unsichtbare Zweite

Titel: Der unsichtbare Zweite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlo Fruttero
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wieder abfahren sah, und bewarf dann die Hühner mit Kieselsteinen.
    »Es war hart«, erklärte Migliarini, »aber so habe ich meinen Charakter gebildet.«
    Was aber machte diese bezaubernde Dame, die immer auf Reisen war, beruflich? Über diesen Punkt hatten der (oder die?) editor und Migliarini lange diskutiert. In der ersten Fassung war die Mama Diplomatin, fuhr von einer Hauptstadt in die andere, nach London, Paris, Prag, Brüssel usw. Doch abgesehen von dem Widerspruch zu den Andenken vom Vesuv und der Mole Antonelliana von Turin hätte der Durchschnittsleser (ich) sich fragen können, was für diplomatische Funktionen eine Single-Frau auf diesen ständigen Reisen durch das Europa des Kalten Kriegs wohl ausüben mochte. War sie vielleicht eine Spionin? Warum nicht, aber dann hätte der Durchschnittsleser aufregende Entwicklungen erwartet, die nicht kamen. Wäre nicht ein reicher Liebhaber besser gewesen, vielleicht ein Grieche, der sie auf seine Playboyausflüge nach Capri, Montecarlo und ins schottische Heideland mitnahm? Nein, widersprach Migliarini vehement, die Mama hatte keinen Liebhaber, nie und nimmer hätte sie ihren Alex wegen eines Liebhabers verlassen. Sie reiste beruflich. Nur: was für ein Beruf also? Schauspielerin, schlug Migliarini vor, oder eine berühmte Sängerin, die immer auf Tournee war. Aber in diesem Fall, gab Beatrice zu bedenken, müsste doch ein schönes Theatererlebnis vorkommen, ein Triumph an der Scala, eine große Shakespeare- oder Pirandello-Interpretation mit dem kleinen Jungen im Publikum, der mitgerissen und begeistert von einer Loge aus zusah. Und folglich Zeitungen, Fotografien, Interviews, Erklärungen: »Das Kostbarste in meinem Leben ist nicht Verdi — es ist Alexander.« Eine große Villa am Lago Maggiore, Personal, ein Pony und eine governess für den Kleinen, und tschüs Großmutter, viele Grüße an die Hühner.
    Doch auf die Großmutter wollte Migliarini keinesfalls verzichten. Drei der Titel, die der Geschäftsleitung vorgelegt und von dieser mit spärlichem Enthusiasmus beurteilt worden waren, lauteten: Die Großmutter, Eine Großmutter und, in äußerster Verknappung, einfach Großmutter. Eine charismatische Gestalt, die Schlüsselfigur seiner Kindheit, eine energische, strenge und zugleich liebevolle Frau, die in echt christlichem Geist hilfesuchende, verzweifelte Mädchen aufnahm, aber auch die Doppelflinte des (im spanischen Bürgerkrieg gefallenen) Großvaters in den Arm zu nehmen wusste, um damit die Karabinieri in Schach zu halten.
    Alexander bewunderte sie, wie er später gewisse herrische und strenge Fürstinnen aus russischen Romanen bewunderte, mit denen die Großmutter übrigens durch Blutsverwandtschaft verbunden war. Zu ihren Vorfahren gehörten nämlich die Fürsten Poniatowskij, einst Könige von Polen, und von einer Seitenlinie der Farnese hatte sie den Geschmack an schönen Dingen, die Eleganz der Haltung, das aristokratische Italienische geerbt. Die Passion für die Landwirtschaft hatte sie dagegen von den Faliero, die ursprünglich aus Venedig kamen, sich aber dann im 16. Jahrhundert in den Tälern des Bergamasco angesiedelt hatten. Und auch noch hier, am Tischchen des Caffe Greco, zögerte Migliarini, eine weitläufige Verwandtschaft mit einem der zahlreichen anerkannten Bastarde des Sonnenkönigs, einem de la Tour du Säule, aufzugeben.
    »Vielleicht«, murmelte Beatrice und schickte einen leidenden Blick aus den vergitterten Fenstern des Waisenhauses zu mir hinüber, »vielleicht könnte dieses genealogische Aufgebot doch etwas zu gewichtig wirken, Onorevole. Der Durchschnittsleser ...«
    »Aber fragen wir ihn doch, wir haben ihn doch da«, unterbrach Migliarini. »Slucca, was sagst du zu diesen Ursprüngen meiner Familie?«
    Ich hüstelte diskret. »Ah, nun ja, diese vielerlei zweifellos hochstehenden, aber alle doch ein bisschen, sozusagen, irregulären Vorfahren könnten eine gewisse ...«
    »Eine gewisse Verwirrung stiften«, gab Migliarini zu. »Ich verstehe das, Slucca, aber andererseits, um zu dreihundertsechzig Grad die komplexen Charakterfacetten des Protagonisten, Alexanders, zu verstehen ...«
    »Gewiss«, murmelte Beatrice und sah mich flehend an, »aber der Durchschnittsleser könnte vielleicht zu schnell denken ...«
    »Also schnell, Slucca, sag uns, was du denken könntest.«
    Ich hüstelte und hüstelte.
    Dann sprang ich. »Also, man könnte an eine praktisch ununterbrochene Linie von Bastarden denken, so kurz wie möglich

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