Der unsichtbare Zweite
Tiefe Scham ergriff ihn, und sein Gewissen brachte ihn dazu, alles der Großmutter zu beichten. Gewiss nicht, um Don Emilio (an dem er ja hing) und die beiden Mädchen (die ihm immer Bonbons schenkten, manchmal sogar Bananen) anzuschwärzen, sondern um sich von der Last dieses beunruhigenden Lusterlebnisses zu befreien, das er als Schuld empfand. Die Großmutter hörte ihm, wie eine echte Fürstin, unbewegt zu und rührte dabei den Teig für den Kastanienkuchen weiter. Kein einziger Vorwurf, keine Erklärung.
Wenige Tage danach erschienen in der Abenddämmerung drei Freunde von Bruna mit einem knatternden Kleinlaster auf dem Hof. Die Großmutter lud sie zum Abendessen ein (hier wurde ein Kastanienkuchen gestrichen), und in der Nacht hörte Sandrino den Lastwagen wieder wegfahren und dann vor Sonnenaufgang zurückkommen. Am nächsten Tag erfuhr man, dass die alte Dorfkirche von unbekannten Dieben ausgeräumt worden war. Zerknirscht gestand Don Emilio, ein Fenster offengelassen zu haben. Diese Freunde von Bruna kehrten noch andere Male wieder, es waren freche, abenteuerlustige Burschen, die nachts mit ihrem Kleinlaster herumkurvten und dann immer zur Großmutter kamen, um im Heuschober irgendwelche Waren abzuladen. Sie waren Händler, sagte die Großmutter, die auf den Jahrmärkten der Dörfer herum zogen.
Doch eines Tages spähte der Junge durch die Ritzen in der Bretterwand des Heuschobers und sah eine Riesenmenge Holzfiguren, Votivgaben, Sakristeimöbel, Kerzenhalter, geschnitzte Holzbänke, Altarbilder und anderes heiliges Mobiliar. Mit aufgewühltem Herzen schlich er in den Schuppen, und von einer Art mystischem Impuls ergriffen, bekreuzigte er sich und schnappte sich ein Kruzifix, das gerade - so ein Zufall! - in einem Sonnenstrahl aufleuchtete, ein aus Gold und Elfenbein gefertigter Gegenstand, der dem naiven Betrachter als der kostbarste unter den vielen anderen vorkam und den er unter seinem Hemd verbarg.
»Ich konnte das natürlich nicht wissen«, erläuterte Migliarini jetzt, »aber es war ein wahrhaft auserlesenes Stück, spätes Barock. Ich habe es heute noch über meinem Bett hängen, es hat mir immer Glück gebracht.«
Die Entdeckung stürzte Sandrino in einen qualvollen Wertekonflikt. Auf der einen Seite der Wert der Liebe, der Dankbarkeit, der Loyalität gegenüber der Großmutter, auf der anderen Seite der Wert der Ehrlichkeit, der Rechtschaffenheit, der moralischen Strenge (er war ja schließlich immer noch ein Farnese Faliero!). Er war verstört, schlaflos, appetitlos, und als er eines Tages zufällig dem Karabinierehauptmann über den Weg lief, gestand er diesem, auf einen Impuls hin, seine Seelenqual. Der gute Hauptmann beruhigte ihn väterlich, lud ihn zu einer Limonade ein und erschien tags darauf mit zwei Kollegen auf dem Hof. Die Großmutter lief mit der Doppelflinte auf die Tenne heraus und versuchte, sie durch zwei Schüsse in die Luft zu vertreiben. Doch die beiden gingen geradewegs zum Heuschober und beschlagnahmten das Diebesgut. Eine hässliche Geschichte. Die Großmutter wurde in die Kaserne gebracht und erklärte ungerührt, sie wisse absolut von nichts, der Heuschober sei seit Jahren ungenutzt, und jeder habe dort eindringen können, um eine arme alte und halbtaube Frau für seine dunklen Machenschaften zu missbrauchen. Sie ließen sie gehen, Bruna und ihre Freunde kamen nicht mehr, das Leben verlief wieder in seinem ländlichen Rhythmus zwischen Sonnenaufgängen, Sonnenuntergängen und Hühnern. Doch die Großmutter lehnte das kostbare Kruzifix, das Sandrino ihr schenken wollte, ab (ja, sie schlug es ihm über den Kopf) und buk ihrem Enkel hinfort keinen Kastanienkuchen mehr.
»Ihr seht also selbst, es ist alles miteinander verknüpft«, sagte Migliarini. »Die Mädchen sind absolut strukturell.«
»Gewiss«, sagte Beatrice und betrachtete ihre Teetasse.
Ich hüstelte hinter vorgehaltener Hand. »Aber vielleicht würde ein einziges Mädchen als Struktur genügen.«
»Mmmm ...«, machte Migliarini. »Aber mit zwei Mädchen ist das sexuelle Erlebnis des Kindes viel stärker.«
»Schon«, sagte ich, »aber zwei, das riecht ein bisschen nach Orgie.«
»Und dann ausgerechnet der Pfarrer ...«, flüsterte Beatrice.
»Was, ihr wollt den Pfarrer streichen?« empörte sich Migliarini. »Aber den hat es doch wirklich gegeben, ich habe seinen Namen geändert, aber Don Ernesto ist eine zentrale Figur in meiner Entwicklung, das heißt in der Entwicklung von Sandrino. Er bringt ihm
Weitere Kostenlose Bücher