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Der unsichtbare Zweite

Der unsichtbare Zweite

Titel: Der unsichtbare Zweite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlo Fruttero
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gesagt.«
    »Sie wissen ja, Onorevole«, bekräftigte Beatrice, »das Publikum kann in bestimmten Fällen schon sehr vulgär und grausam sein. Es ist nur ein Roman, gewiss, aber ...«
    »Was soll das heißen, nur ein Roman?« keuchte Migliarini zornrot. »Ich habe auf diesen Seiten alles, was ich bin, meine ganze Seele gegeben, wie alle die da, die hier in diesem Cafe gesessen haben!«
    Sein Blick schweifte durch die Räume, in denen schon Chateaubriand und Winckelmann, Schopenhauer und Dickens zu Gast waren.
    »Gewiss«, murmelte Beatrice, »aber der Durchschnittsleser neigt dazu, zwischen den Zeilen zu lesen, jede kleinste Zweideutigkeit verleitet ihn zu ... bösartiger Auslegung.«
    »Welche Zweideutigkeiten denn?« fragte Migliarini drohend. »In meinem Buch war ich immer um höchste Transparenz bemüht.«
    »Ich dachte zum Beispiel«, hauchte Beatrice wie mit letzter Kraft, »an all diese armen Mädchen, die zur Großmutter kommen, ein paar Tage bleiben und dann ...«
    »Sie haben ihr die Gastfreundschaft vergolten, so gut sie eben konnten, sie haben ihr geholfen, die Hühner zu versorgen und die Artischocken und Tomaten zu ernten, und wenn sie dann wieder auf dem Damm waren, haben sie sich auf ihr Fahrrad geschwungen und sind weggefahren. Aber oft sind sie auch wiedergekommen, da war eine, Erminia, die ist sogar zweimal im Jahr aufgetaucht. Die Großmutter hat sie wie Töchter behandelt, sie mussten ihr gehorchen, aber sie hat sie sehr geliebt. Und sie alle die Großmutter auch.«
    »Ja, gewiss. Aber waren sie denn ... krank, oder hatten sie Depressionen oder was?«
    »Im Italien von damals hatte man keine Depressionen. Es war ein armes Land, ein würdevoll armes Land, aber Depressionen gab es nicht. Es gab die Hoffnung, den Willen, zu handeln, zu kämpfen, etwas zu schaffen und zu mehren!«
    »Eben«, hauchte Beatrice, »eben ...«
    Migliarini musterte sie mit eisigem Blick. »Eben was?«
    »Nun, der Durchschnittsleser ...«
    »Lassen wir jetzt einmal diesen verdammten Durchschnittsleser, sagen Sie mir endlich, was für einen Eindruck Sie selbst von diesem Kommen und Gehen der Mädchen gewonnen haben!«
    »Nun, ich weiß ja nicht, aber ...«
    Ich hüstelte höflich und sagte wie zu mir selbst: »Seid fruchtbar und mehret euch.«
    »Keine dummen Anspielungen, Slucca! Drück dich gefälligst mit absoluter Deutlichkeit aus, wie ich es dich immer gelehrt habe!«
    »Nun, also mit äußerster Deutlichkeit ausgedrückt: 1955 gab es doch, wie soll ich sagen, die Antibabypille noch nicht, und den Mädchen, vor allem denen auf dem Land, konnte es doch passieren, dass ...«
    Migliarini kaute schweigend auf seiner Unterlippe herum. Dann explodierte er: »Nein, das ist ja ungeheuerlich! Da muss man ja wirklich eine kranke, eine total verdorbene Phantasie haben, um auf so einen Verdacht zu kommen, dass die Großmutter für die ganze Gegend Abtreibungen gemacht haben soll! Wer hat schon so eine völlig perverse Phantasie!«
    »Bonifante«, erinnerte ich ihn, »um nur einen zu nennen.«
    Migliarini zerrte an seiner Unterlippe. »Ja doch, Bonifante der Schmutzfink ...«
    »Und versuch einmal an Tinelli zu denken ... an Di Mirto ...«
    »Der schweinische Tinelli ...«, sinnierte Migliarini. »Di Mirto der Dreckspatz ... Ja doch, ja doch ...«
    Man sah, wie er im Geiste, zusammen mit der Unterlippe, die Liste der geistig depravierten Kollegen entrollte. Schließlich sagte er: »Ja, aber das bringt mich ganz furchtbar in die Klemme. Wenn ich die Mädchen rausnehme, fällt auch die fundamentale Episode im Röhricht weg, wo Alexander seine überwältigende Initiation in die Geheimnisse des Geschlechts erlebt.«
    Der Junge, der auf die Felder geschickt worden war, um Gras für die Kaninchen zu holen (es gab auch einen Kaninchenstall), entdeckte im Röhricht den guten Pfarrer Don Emilio, der seltsame Dinge mit zwei Schützlingen der Großmutter trieb, einer gewissen Bruna und einer gewissen Amabile. Bestürzt und zugleich geheimnisvoll angelockt durch dieses Flattern von Röcken und Soutane, dessen Zweck ihm dunkel blieb, sah Sandrino eine Weile zu, brach dann ein großes Schilfrohr ab, stürzte sich damit auf das Terzett und prügelte wild vor Wut auf es ein. Der Priester und die Mädchen ergriffen kreischend die Flucht, und der völlig erschöpfte, tränenüberströmte Kleine wurde sich plötzlich gewahr, dass er in seiner blinden Raserei einen wollüstigen Schwindel, ein nie gekanntes berauschendes Lustgefühl empfunden hatte.

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