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Der unsichtbare Zweite

Der unsichtbare Zweite

Titel: Der unsichtbare Zweite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlo Fruttero
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Tischtennis bei, nimmt ihn zu Letzten Ölungen mit und auf eine Pilgerreise zur Wallfahrtskirche von Loreto, er unterrichtet ihn in den Anfangsgründen des Latein, erschließt ihm neue Horizonte ...« Er betrachtete mit träumerischem Blick diese Horizonte.
    »Gewiss«, murmelte Beatrice, »aber in dem Röhricht dort ...«
    »Und was ist dabei?« widersprach Migliarini vehement. »Er war ein Mann, der keine Gottesgabe verachtete, ein Landpfarrer in der großen alten Tradition Boccaccios oder Sacchettis! Er mochte die Frauen, na und? Er ist eine blutvolle, positive Gestalt, typisch für das damalige freimütige und anspruchslose Italien, das noch in der prätechnologischen Kultur verankert war, den wahren Werten des Lebens verbunden. Tausendmal besser die gesunde Sinnlichkeit Don Ernestos als diese infamen Geschichten von Pädophilie und Voyeurismus via Internet, von denen wir heute hören müssen! Was meinst du dazu, Slucca, als Durchschnittsleser?«
    »Sicher«, pflichtete ich ihm bei. »Aber ... wenn alles miteinander verknüpft ist, wie du sagst ...«
    »Tout se tientl« bekräftigte Migliarini, die Finger der rechten mit denen der linken Hand verschränkend.
    »Eben, aber wenn Don Emilio im Röhricht in dieser peinlichen Situation überrascht wird ...«
    »Panischen, nach Pan«, verbesserte mich Migliarini. »Ich würde sie eher panisch nennen, diese Situation, die ja ihren uralten, uranfänglichen Adel hat.«
    »Ohne Zweifel«, sagte ich schnell, »aber so muss Don Emilio sich von der Großmutter erpressen lassen, muss zum Komplizen der Diebe und sozusagen zum Untermann der Bande werden.«
    Migliarini sah mich entsetzt an. »Du«, sagte er, wobei er die Worte skandierte, als knackte er mit den Zähnen Haselnüsse auf, »du-Slucca-denkst-das?«
    »Aber woher denn«, wand ich mich heraus. »Ich bestimmt nicht, aber der Durchschnittsleser, der einfach zwei und zwei zusammenzählt, könnte, alles in allem genommen, so ungefähr diesen falschen Eindruck gewinnen.«
    Migliarini schwieg lange, Stimmen von meist ausländischen Gästen aus den anderen Räumen des Caffe Greco waren zu hören, die Schritte der Kellner, das Klirren eines Kaffeelöffels auf dem Marmor.
    »Tja«, sagte Migliarini düster, »so gesehen ...«
    Beatrice hob den Kopf und belebte sich wieder. »Es würde genügen, den Priester durch einen anderen Mann zu ersetzen, einen Hausierer, einen Mechaniker, einen Karussellbesitzer, irgend so einen ...«
    »Und man sollte auch die Empfindlichkeit des katholischen Durchschnittslesers bedenken«, sagte ich. »Nicht dass dir noch antiklerikale Absichten unterstellt werden.«
    »Um Gottes willen«, Migliarinis Stirn umwölkte sich, »um Himmels willen!«
    »Dann doch eher vielleicht ein militanter Kommunist«, schlug Beatrice vor, »der könnte doch auch so vollblütig und sinnlich sein.«
    »Nein, das hätte mir noch gefehlt, bloß keine Politik, keine Feinde a gauche!« widersetzte sich Migliarini. »Und außerdem würde dann die Soutane wegfallen, diese Vermengung, dieses unreine Durcheinander von weltlichen und heiligen Gewändern, das den Wutanfall von Sandrino auslöst ...«
    »Ja, eben«, meinte Beatrice, »der Wutanfall ...«
    Migliarini linste sie böse an. »Was soll denn jetzt mit meinem Wutanfall nicht in Ordnung sein?«
    »Nichts, es ist ein wunderschöner Wutanfall, an und für sich.«
    »Und in der großen Tradition der kindlichen Wutanfälle, es gibt entsprechende bei Rousseau, Alfieri, Thomas Mann«, zählte Migliarini auf, wobei er um sich sah, als suchte er die Zustimmung dieser Großen. »Um erst gar nicht von Freud zu sprechen.«
    Ich hielt den Blick starr auf die Halskette der jungen Frau gerichtet, sie den ihren auf meine Krawatte.
    »Ja«, sagte ich, »es ist ein exemplarischer Fall von früh entwickeltem Sadismus.«
    Jetzt war Migliarini empört. »Sadismus? Du unterstehst dich, einen im Grunde biblischen Akt wie diesen Sadismus zu nennen, Slucca? Einen instinktiven Impuls, der an Kant und seinen moralischen Imperativ gemahnt?«
    »Trotzdem ...«, stammelte ich. Migliarini schüttelte den Kopf, stieß einen langen Seufzer aus.
    »Also, so geht das nicht, Slucca! Du hast dich hier mit uns an einen Tisch gesetzt, aber du steuerst keinen einzigen Beitrag bei, der dieses Begriffs würdig wäre. Du kritisierst, kritisierst flächendeckend, aber du bringst nicht einen einzigen konstruktiven Vorschlag auf den Tisch. Du bist ein Dekonstruktivist, Slucca, nimm's mir nicht übel.«
    Tische waren

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