Der unsichtbare Zweite
für Migliarini etwas Heiliges. Die Politik, sagte er oft, ist Tisch, Tisch und wieder Tisch. Es gebe keine noch so vertrackte Situation, die sich nicht dadurch lösen ließe, dass man sich an einen Tisch setze. »Auch der trojanische Krieg«, war sein Lieblingsbonmot, »hätte nicht stattgefunden, wenn sich alle an einen Tisch gesetzt hätten.«
»Aber die hatten doch Helena geraubt«, gab ich zu bedenken.
»Macht nichts«, meinte er, »an einem Tisch wäre auch in diesem Fall ein akzeptabler Kompromiss gereift.« Eines Tages hatte er mir anvertraut, sich innerhalb von zehn Stunden an sechs verschiedene Tische gesetzt zu haben. »Sagen wir uns doch die Wahrheit, Slucca, wir Parlamentarier können so gut wie nichts für unsere Wähler tun, während wir schlafen, Spazierengehen, Tennis spielen, fernsehen, tanzen, bumsen, und nicht einmal dann, wenn wir im Plenarsaal von Montecitorio das Wort ergreifen. Nur wenn wir uns an einen Tisch setzen, tun wir unsere Pflicht am Volk, und es ist gleich, ob er rund, viereckig, dreieckig ist oder in einem Restaurant steht. Die bescheidene Geste, einen Stuhl abzurücken und sich mit anderen an einen Tisch zu setzen, ist für den Parlamentarier der edelste, erhabenste, ja, heiligste Akt. Ich übertreibe nicht, Slucca, das kannst du mir glauben.«
Seine Augen leuchteten, er sah ein großes, von Frans Hals, Velazquez, Tizian signiertes Gemälde vor sich, er selbst im Vordergrund, wie er mit anderen ernsten Edelleuten mit weißen Halskrausen an einem Tisch Platz nimmt.
»Gut, und jetzt, würde ich sagen, brauchen wir eine Denkpause«, schlug er mir und dem (der?) editor vor .
Wie das Offertorium in der Messe gehört die Denkpause unabdingbar zur Sitzung am Tisch. Alle strecken und recken sich lächelnd wie in der Sonne der Bahamas, fangen an zu scherzen, reden von den Fußballmeisterschaften, den Kindern, einem phantastischen Restaurant, das sie in Ariccia entdeckt haben. Einige holen das Handy heraus, andere wechseln die Plätze und setzen sich neben jemand anderen, der seinerseits den Platz gewechselt hat, immer um den Tisch herum. Niemand gibt sich dem Denken hin.
Der (oder die?) editor Beatrice stand auf und ging mit dem Handy in der Faust davon, ich wollte zur Toilette, aber Migliarini hielt mich am Arm zurück, um über den Titel zu sprechen, den Umschlag, die Auflage, die Werbekampagne, wem er ein Gratisexemplar des Buchs zuschicken sollte und wem nicht.
»Und das Vorwort, Slucca«, sagte er, »wir müssen rechtzeitig an das Vorwort denken.«
Ein Kollege als Autor war nicht ratsam, alle anderen hätten sich wegen der Nichtberücksichtigung gekränkt gefühlt. Dann also der größte lebende italienische Schriftsteller? Aber es gab sieben (gesicherte) größte lebende italienische Schriftsteller und sechs beinahe größte, abgesehen vom Risiko der Eifersucht, des herablassend zwischen den Zeilen verspritzten Gifts, mit dem zu rechnen war. Besser eine Schriftstellerin, die das Hauptaugenmerk auf die formative Rolle der Großmutter zu legen wüsste. Aber ohne der Großmutter etwas wegnehmen zu wollen - war die eigentliche Hauptfigur nicht das Kind? Also wäre vielleicht ein Kinderpsychologe, ein berühmter Professor, besser geeignet, sich in die komplexe Persönlichkeit Alexanders zu vertiefen. Andererseits konnte ein allzu wissenschaftliches Vorwort wiederum den Durchschnittsleser verschrecken. Warum daher nicht lieber ein Kritiker von indiskutablem Prestige? Ja, damit dann die anderen Kritiker von indiskutablem Prestige das Buch verrissen ... Migliarini nannte Namen. Ich nannte andere Namen. Die Zeit verstrich.
»Aber wohin ist denn das Mädel verschwunden?« sagte er an einem gewissen Punkt. »Was meint die eigentlich, wie lange eine Denkpause dauert? Geh sie mal suchen, Slucca.«
Ich musste nicht lange suchen, sie war im angrenzenden Raum und sprach mit einem großen, hageren jungen Mann, dessen Miene so kläglich war wie sein Anzug. Sie standen da und wirkten wie zwei seit langem vergessene Blumen in zwei Vasen zu beiden Seiten einer Grabnische. Als sie mich sah, winkte sie mir mit einer resignierten Handbewegung zu, mit der gleichen Handbewegung grüßte sie der andere, und wortlos, mit hängenden Schultern, kehrte sie an den Tisch zurück, wo uns ein vollständig verwandelter Migliarini erwartete. Er hatte sich halb erhoben, seine Augen funkelten, so einen Ausdruck muss Newton beim Fall des Apfels gehabt haben. Er beugte sich vor, bedeutete uns, mit den Köpfen
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