Der unsichtbare Zweite
erkannt und ließ sich nichts anmerken? Oder steckte sie mit Migliarini unter einer Decke und wusste bereits, dass ich kommen würde? Da hatten wir's, genau so fängt das Bangen und Zittern des Eingeschleusten an. Sie selbst konnte von jemand anderem eingeschleust sein, oder war sie etwa, da sie nicht verkleidet war, einfach aus humanitären Gründen gutgläubig und gutwillig hier?
»Verzeihenara«, murmelte ich und trat über die Schwelle.
In dem Souterrainraum waren eine Menge Leute, es herrschte eine große ethnische Konfusion, Marokkaner, Äthiopier, Rumänen, Tschingalesen, Chinesen, Peruaner und andere, deren Herkunft ich nicht genau bestimmen konnte, Polen vielleicht, wenn nicht Russen. Auch die Musik war streng multiethnisch, das heißt drei oder vier CDs verbreiteten gleichzeitig vorderorientalische, afrikanische, asiatische usw. Volksweisen. Eine festliche Koexistenz verschiedener Kulturen.
»Genau da muss man ansetzen«, sagt Migliarini oft, »bei den einfachsten, grundlegendsten Dingen, bei den dummen Witzen, Kalauern, den Soßen zum Giraffengulasch. Es sind diese kleinen Dinge, von denen ausgehend sich allmählich eine gemeinsame Toleranz aufbauen lässt, eine offene Kultur. Fang mit einem tschetschenischen Witz an, und du kommst schließlich zum Römischen Recht.«
»Aber wenn man über den tschetschenischen Witz nicht lachen muss?« gab Vasone zu bedenken, der nicht einmal über italienische Witze lacht.
»Dann lacht man aus Höflichkeit, aus gebotenem savoir vivre«, erklärte Migliarini lachend. »Und ein Lachen führt zum andern, das weiß man doch, das Lachen ist der erste, entscheidende Schritt zum Verständnis des anderen, des Abweichenden. Wenn der Tschetschene über den Witz von der Nonne lacht, die sich einen Büstenhalter kauft ...«
»Erzähl ihn nicht«, sagte Vasone, »ich bin kein Tschetschene, bei mir wäre der Witz für die Katz.«
Die Decke des großen Raums war niedrig, die Wände waren mit sympathischen Motiven multiethnischen Lebens bemalt, nackte Kinder, die über eine Müllhalde liefen, eine belebte Straße in Nairobi mit einem Gucci-Laden im Hintergrund, ein Crossradrennen im Regenwald. Von diesen sogenannten Zentren der vierten Aufnahme haben wir zwei in Rom und eines auf Ischia. Sie sind nach der Leitidee einer Onorevole Fabiocchi nahestehenden Studiengruppe entstanden und sollen den illegalen Einwanderern helfen, die bereits die erste Stufe der Aufnahme (Decken und warme Mahlzeiten), die zweite (Container mit fließendem Wasser), die dritte (gelegentliche Schwarzarbeit) hinter sich haben und nun anfangen, mit dem taedium vitae, dem Alltagsüberdruß Probleme zu kriegen. Sie haben sich eingegliedert, sie haben sich angepasst und eingeordnet, aber an diesem Punkt kommen die ersten Fragen, was das alles nun heißen soll. Sie werden reizbar oder schwermütig, denken wehmütig an gewisse Wiesen oder Gassen ihrer Kindheit zurück, fallen der Nostalgie anheim, brüllen Familienangehörige oder Freunde an. Die Tomatenernte sagt ihnen gar nichts mehr, das Drogendealen langweilt sie, sie gehen ohne Enthusiasmus betteln, die Zuhälterei erscheint ihnen als eintönige Beschäftigung, trotz der Verschiedenheit der Klienten. Es sind tiefe existentielle Krisen, die der Okzident nur allzu gut kennt und die jahrhundertelang seine größten Denker und Dichter beschäftigt haben.
»In Sachen totaler Verzweiflung«, sagt Migliarini, »haben wir die Führungsposition, Slucca, und auf diesem Terrain können wir einander begegnen, einander verstehen, dauerhafte Beziehungen der Gemeinschaft mit diesen Unglücklichen knüpfen. Die Empfindung des Nichts, der Vergeblichkeit alles Tuns, ist allen Kulturen, allen Zivilisationen gemein. Wie oft passiert uns nicht angesichts eines sich in unserem Bett räkelnden irischen Topmodels, dass wir von einem Gefühl abgrundtiefer Fremdheit, schwindelerregender kosmischer Einsamkeit überwältigt werden. Wer ist die da bloß? Was macht sie zwischen meinen Leintüchern? Was hat die mit mir, mit meinem Leben zu tun? Genauso ist es mit dem letzten Modell BMW Coupe: Du hast es eben erst gekauft, du schaust es dir an, und plötzlich ist es dir völlig gleichgültig, es ist ein Haufen Plastik und Metall auf vier lächerlichen Rädern. Das sind entscheidende Erfahrungen, die uns diesen Illegalen näherbringen, uns erlauben, uns mit ihnen an einen Tisch zu setzen, ihnen zu erklären, dass auch wir so etwas durchgemacht haben, Slucca, wie Sophokles und der
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