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Der Untergang der Hölle (German Edition)

Der Untergang der Hölle (German Edition)

Titel: Der Untergang der Hölle (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Thomas
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erwiderte Jay nüchtern. »Umso mehr scheint mir Vorsicht geboten zu sein.«
    Der Engel namens Vee hatte in Erfahrung gebracht, dass es eine Siedlung auf der 128. Ebene des Konstrukts gab, die sich Freetown nannte. Eine große Kolonie, in der die Verdammten in friedlicher Nachbarschaft mit Engeln lebten, sogar mit Dämonen – wenn auch sicher nicht mit Dämonen aller Rassen. Gerade war sie einige Ebenen tiefer nur mit knapper Not einer Horde kleiner Plagegeister mit Totenschädelgesichtern entkommen.
    Von Freetown gehört hatte sie durch Jay, ihrem einzigen Gefährten bei der Erkundung des Konstrukts. Erst kürzlich war sie aus Jahrhunderten der Kriegsgefangenschaft erwacht, die sie im Tiefschlaf zugebracht hatte. Viele Ebenen tiefer in den Eingeweiden der Anlage, ohne jegliche Erinnerung an die eigene Vergangenheit. Weder ihre Zeit als Sterbliche noch die Wandlung zum Engel nach ihrem Tod waren als Fragmente in ihrem Bewusstsein aufzutreiben. Sie wusste auch nichts mehr von dem grauenhaften Krieg, an dem sie offenbar selbst teilgenommen hatte – das Armageddon, das die letzten verbliebenen Verdammten in dem unvorstellbar großen Gebilde, das alle Konstrukt nannten, Zuflucht suchen ließ, Engel und Dämonen gleichermaßen, während außerhalb seiner Mauern die zerschmetterten Überreste der Hölle unter erstarrter Lava begraben lagen.
    In dieser ganz und gar fremdartigen Welt hatte sich Jay als überaus nützlicher Führer entpuppt: quasi der Vergil ihres Dante. Noch dazu verschoss er Kugeln, denn er war ein mechaorganisches, aus Knochen gewachsenes Gewehr mit einem einzigen Auge, einem Lippenpaar an der Seite und der Empfindungsfähigkeit eines Dämons. Die Krone seiner Nützlichkeit aber war, dass er sich in das Netz einklinken konnte. Und durch das Netz hatte Jay von Freetown erfahren. Für Vee, die sich an keinen Ort ihres Lebens vor oder nach dem Tod erinnern konnte, der ihr ein Zuhause geboten hatte, schien es ein ebenso lohnenswertes Ziel zu sein wie jeder andere auch.
    Vee hatte die zahllosen Stockwerke auf die verschiedensten Arten überwunden – vom Aufwärtskriechen durch Lüftungskanäle bis hin zur Fahrt mit Lastaufzügen, von der Benutzung metallener Wendeltreppen bis hin zum Erklimmen opulenter Treppen aus Marmor. Gegenwärtig näherte sie sich Ebene 120, indem sie sich an einem dicken Kabelbündel emporhangelte, das quer durch einen Betonschacht verlief. In die Seite des Schachts waren rostige Leitersprossen eingelassen, doch nachdem eine davon sich unter ihren Händen aus der Befestigung gelöst hatte, entschied sie, dass die Kabel die sicherere Variante waren.
    Außerdem beleuchteten zahlreiche am Rand befestigte Scheinwerfer den Schacht, von denen etwa jeder Dritte noch funktionierte. Die Technologie im Konstrukt hatte sich über die Jahrhunderte deutlich weiterentwickelt, doch viele ältere Systeme versagten selbst nach fast 2000 Jahren ohne Reparatur oder Wartung noch nicht den Dienst. Das verriet viel über die Qualität dämonischer Technologie – andererseits war auch diese physische Realität nur eine Illusion, genau wie Vees eigener Körper.
    Illusion oder nicht: Als sie das Ende des Schachts erreichte und die schwindelnden Höhen von Ebene 119 nach Ebene 120 überwand, verschluckte Vee Scheinluft und schwitzte Scheinschweiß in der passgenauen zweiten Haut ihres schwarzen Gummioveralls. Ihr ziemlich kurz geschnittenes, rötliches Haar klebte ihr in Zotteln an der Stirn.
    Sie spähte mit dem Kopf zunächst vorsichtig durch die Öffnung und schob dabei auch die stumpfe Mündung des Knochengewehrs in den Spalt, doch sie entdeckte niemanden. Zwar hatten viele Verdammte, Dämonen und Engel, das Konstrukt zu ihrer zweiten Heimat gemacht. Doch sie lebten so weit verstreut und das Konstrukt war so unfassbar riesig, dass es verlassen wirkte, egal wohin man kam. Manchmal fühlte sich Vee, als wären sie und das Gewehr die einzigen Wesen an diesem Ort. Manchmal wünschte sie sich, sie wären es tatsächlich.
    Im Boden hatte sich einmal eine Metallplatte befunden, um diese Öffnung abzudecken, aber sie war offenbar schon vor längerer Zeit entfernt und beiseitegeschafft worden. Sie war dankbar dafür; obwohl sie ein paar einfache Werkzeuge in der Tasche auf ihrem Rücken dabeihatte, wäre es schwierig, wenn nicht unmöglich gewesen, sich an den Kabelstrang zu klammern und die Abdeckung selbst zu lösen. Nicht auszudenken, wenn diese Totenschädeldämonen ihr weiter den Schacht hinaufgefolgt wären.

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