Der Untergang der Hölle (German Edition)
riskierte es, ihnen ihre Waffen anzuvertrauen und war neugierig, mehr über die Gemeinschaft herauszufinden. Zudem sah es so aus, als ob sie den Bezirk durchqueren müsste, wenn sie ihren Aufstieg im Konstrukt fortsetzen wollte.
Die Siedler dieser Stadt, die sich Naraka nannte, waren fast vollständig indischer Abstammung. Die meisten von ihnen waren beim Großen Knall ums Leben gekommen und in den Hades verbannt worden, weil sie Hindus waren. Als Vee sich als Engel vorstellte, regte sich ein gewisses Misstrauen bei ihren Gastgebern. Sie wollte sich bei ihnen für ihre unfaire Verdammnis entschuldigen, doch sie behandelten sie nicht weniger höflich als zuvor und führten sie überall herum.
An der Stelle, an der Vee die Stadtgrenzen von Naraka passierte, stand ein ehemaliges Kasernengebäude für Verdammte, die man in Tartarus einst zum Arbeiten gezwungen hatte. Das Gebäude wirkte biotisch wie ein Gewächs, das aus einem einzigen glasigen, grauen Knochen hervorgegangen war, an seiner dünnsten Stelle fast durchsichtig. Die ursprünglichen Kammern waren von den Kolonisten weiter unterteilt worden, obwohl einige der Räume nach wie vor gewaltige Abmessungen aufwiesen. Vees Führer, ein Mann mit sanfter Stimme namens Harvinder, der sich ihr als technischer Leiter und Ausbilder vorgestellt hatte, führte sie in die größte Kammer der Kolonie und ihr blieb vor Ehrfurcht der Mund offen stehen, als sie die Eindrücke auf sich wirken ließ.
Die grauen Knochenwände waren vom Boden bis hinauf zur himmelhohen Decke wabenförmig angelegt. Die Reihen organisch wirkender Aussparungen entpuppten sich als Hunderte winziger Wohnungen, die eher wie Ablagefächer wirkten, in die man einst die Sklaven zum Schlafen einquartiert hatte. Jetzt war jede Aushöhlung zu einer Arbeitskabine umfunktioniert worden, die einen Schreibtisch und einen Computer beherbergte. Die Geräte waren, wie Harvinder stolz verkündete, von den Kolonisten selbst entworfen und aus Material und Schaltkreisen hergestellt worden, die früher anderen Zwecken gedient hatten. Zudem bestanden Datenverbindungen zu Servern, die dämonischen Computersystemen nachempfunden waren.
Männer und Frauen tippten dort eifrig. Das monotone Klappern ihrer Tasten erzeugte einen ungeheuren Lärm wie von gigantischen Insekten, die durch diesen Bienenstock wimmelten. Harvinder musste seine sanfte Stimme erheben, um gegen das Getöse anzukommen. Viele der Arbeiter schützten ihre Ohren mit Kopfhörern und sie sah, dass manche über Mikrofone mit anderen kommunizierten. Wiederum andere Arbeiter saßen wie betäubt mit unbewegten Händen und leerer Miene vor ihren Tastaturen; manche waren sogar auf ihren Stühlen zusammengesackt, als würden sie dösen.
Ein Kabel verlief von den Computerterminals dieser merkwürdig inaktiven Leute zu einem Loch in ihrer rechten Schläfe. Vee hatte bereits bemerkt, dass Harvinder und tatsächlich jeder Kolonist, den sie zu Gesicht bekam – Kinder eingeschlossen –, über eine in die rechte Hälfte der Schläfe implantierte Anschlussbuchse verfügte. Sie wusste, dass die verkabelten Arbeiter, die sie beobachten konnte, direkt mit dem Netz verbunden waren.
»Was macht ihr hier?«, fragte Vee voll des Staunens über die immensen Ausmaße dieses Betriebs. »Ich meine, ich habe mir zwar schon immer gedacht, dass es auch in der Hölle ein Callcenter geben muss, aber …«
Harvinder lächelte. »Im Grunde sind wir dafür verantwortlich, dass das Konstrukt weiterhin funktioniert. Viele der Leute, die in ihm leben, erfahren nie davon, daher ist es eine sehr undankbare Arbeit, aber es ist eine, die erledigt werden muss. Wir tragen Sorge dafür, dass die Elektrizität intakt bleibt, ebenso die Scheinwerfer, die Lüftungssysteme, die Klimaanlagen – tatsächlich wäre das Netz ohne unsere dauerhafte Wartung und Betreuung kaum arbeitsfähig. Gar nichts würde funktionieren, zumindest nicht lange oder nur in isolierten Abschnitten.«
»Wow. Wie Sie schon sagten, ich hatte keine Ahnung. Gibt es niemanden, der Sie dafür bezahlt, mit Ihnen Handel treibt oder so etwas?«
»Nun, wir tun dies nicht aus reinem Altruismus … Hauptsächlich tun wir es, um diese Systeme und Annehmlichkeiten für uns selbst zu erhalten, aber wir finden, dass es auch anderen zugutekommen darf, wenn wir es tun. Sollte uns je ein Feind bedrohen, könnten wir die Systeme gezielt in seiner Region abschalten, sofern sie nicht eigene Systeme gegen uns einsetzen. Aber ich möchte
Weitere Kostenlose Bücher