Der Untergang der Shaido
anderen die Kehle aufgeschlitzt. Oder - in ihrem Fall - noch lieber zugesehen, wie man ihre Schwester zum Bilgereinigen abkommandierte. Es gab keinen tieferen Hass als den Hass zwischen Geschwistern.
»Lass dich von diesen Schlammenten nicht beißen, Harin e.« Für eine Frau hatte Mareil eine tiefe Stimme, aber sie war melodisch. Sie reichte Harine einen der beiden Pokale, die sie hielt. »Du hast getan, was du für richtig gehalten hast, und wenn es das Licht so will, wird alles gut.«
Unwillkürlich sah Harine zu dem Ringbolzen in einem der Deckenbalken. Man hätte ihn mittlerweile entfernen könn en. Sie war davon überzeugt, dass man ihn dort nur hatte hängen lassen, um sie zu provozieren. Diese seltsame junge Frau namens Min hatte Recht behalten. Ihr Abkommen mit dem Coramoor war als unzulänglich beurteilt worden, zu viel für zu wenig. In genau dieser Kabine war sie unter den Augen der Ersten Zwölf und der neuen Herrin der Schiffe nackt ausgezogen und an den Fußknöcheln an diesem Ringbolzen aufgehängt worden, die Handgelenke waren an einen Eisenring im Boden gebunden worden, dass sie straff dort hing, und dann hatte man sie mit dem Tauende geschlagen, bis sie sich die Lungen aus dem Leib schrie. Die Striemen und blauen Flecke waren verschwunden, aber die Erinnerung blieb, ganz egal, wie sehr sie sich bemühte, sie zu verdrängen. Immerhin hatte sie nicht um Gnade gewinselt oder gefleht, dass man aufhörte. Das war unmöglich gewesen, denn sonst wäre ihr keine andere Wahl geblieben, als zur Seite zu treten und wieder zur einfachen Herrin der Segel zu werden, während eine andere zur Herrin der Wogen vom Clan Shodein erhoben wurde. Die meisten der hier Anwesenden vertraten ohnehin die Ansicht, dass sie das nach einer solchen Bestrafung hätte tun sollen, vielleicht tat das auch Mareil. Aber da war der zweite Teil von Mins Vorhersage gewesen, der ihr Mut gemacht hatte. Eines Tages würde sie die Herrin der Schiffe sein. Dem Gesetz zufolge konnten die Ersten Zwölf der Athaʹan Miere jede beliebige Herrin der Segel zur Herrin der Schiffe erheben, aber in einem Zeitraum von mehr als dreitausend Jahren hatten sie nur fünfmal außerhalb ihrer eigenen Ränge gesucht. Die Aes Sedai behaupteten, dass sich Mins seltsame Visionen immer bewahrheiteten, aber Harine hatte nicht vor, sich auf ein Glücksspiel einzulassen.
»Alles wird gut, wenn das Licht es will, Mareil«, sagte sie.
Eines Tages. Sie musste nur den Mut haben, das abzusegeln, was auch immer vorher auf sie zukam.
Wie gewöhnlich kam Zaida ohne jeden Pomp, sie rauschte einfach herein, gefolgt von ihrer Windsucherin Shielyn - hochgewachsen, schlank und reserviert - und Amylia, der vollbusigen, hellhaarigen Aes Sedai, die sie aus Caemlyn mitgebracht hatte. Das alterslose Gesicht der Aes Sedai sah ständig überrascht aus, die blauen Augen immer weit aufgerissen, und aus irgendeinem Grund atmete sie schwer. Alle verneigten sich, aber Zaida ignorierte das. Sie war klein und in grünen Brokat gekleidet - die weiße Trauerstola fehlte natürlich nicht -, ihre grau werdenden Locken waren kurz geschnitten, aber es gelang ihr, genauso groß wie Shielyn zu erscheinen. Eine Sache der Ausstrahlung, wie Harine zugeben musste. Die hatte Zaida, und sie konnte mit einer Ruhe nachdenken, die nicht einmal ein Cemaros an einer Leeküste erschüttern konnte.
Abgesehen davon, dass sie mit der ersten der Aes Sedai zurückgekehrt war, wie man bei dem Handel für die Benutzung der Schale der Winde vereinbart hatte, hatte sie auch ihren eigenen Vertrag mitgebracht, ein Stück Land in Andor, das den Gesetzen der Athaʹan Miere unterlag, und wo man Harines Handel als mangelhaft betrachtet hatte, war Zaidas begeistert aufgenommen worden. Das und die Tatsache, dass sie durch eines dieser seltsamen Wegetore direkt nach Illian gekommen wargewoben von ihrer eigenen Windsucherin -, waren nicht die einzigen Gründe für ihre Wahl zur Herrin der Schiffe, aber beides hatte ihrer Sache bestimmt nicht geschadet. Harine hielt das Schnelle Reisen für überbewertet. Shalon konnte jetzt auch ein Wegetor erschaffen, aber es war sehr schwierig, es ohne jeden Schaden auf einem Schiffsdeck zu öffnen, selbst in so ruhigen Gewässern wie diesen hier, vor allem vom Deck eines fremden Schiffes, und niemand konnte das Tor groß genug machen, damit ein Schiff hindurchsegeln konnte. Völlig überbewertet.
»Der Mann ist noch nicht eingetroffen«, verkündete Zaid a, wählte den Stuhl aus, der mit
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