Samurai 2: Der Weg des Schwertes (German Edition)
Prolog
Dokujutsu
Japan, August 1612
»Dieser Skorpion ist von allen dem Menschen bekannten Skorpionen der giftigste«, erklärte der Ninja. Er nahm ein großes, schwarzes Exemplar aus einem Holzkasten und setzte es auf die bebende Hand der Schülerin. »Er ist der ideale Auftragsmörder: bewaffnet, lautlos und tödlich.«
Das achtbeinige Tier kroch über ihre Hand. Sein Stachel glänzte im Halbdunkel. Vergeblich versuchte die Schülerin, ihr Zittern zu unterdrücken.
Sie kniete in einem kleinen, von Kerzen erleuchteten Zimmer vor dem Ninja. Überall standen Krüge, Kisten und kleine Käfige, die mit giftigen Tränken, Pulvern, Pflanzen und Tieren gefüllt waren. Der Ninja hatte ihr bereits blutrote Beeren, dicke Kugelfische, knallbunte Frösche, langbeinige Spinnen und zusammengerollte, schwarzköpfige Schlangen gezeigt – alle mit einem für den Menschen tödlichen Gift.
»Ein einziger Stich verursacht dem Opfer unerträgliche Schmerzen«, fuhr er fort und blickte unverwandt in die angstvoll geweiteten Augen der Schülerin. »Auf Krämpfe folgen Lähmung, Bewusstlosigkeit und zuletzt der Tod.«
Die Schülerin erstarrte und blickte wie versteinert auf den Skorpion, der ihren Arm hinaufkroch. Der Ninja setzte seinen Vortrag fort. Die Gefahr, in der seine Schülerin sich befand, schien ihn nicht weiter zu kümmern.
»Als Teil deiner Ausbildung zum Ninja wirst du dokujutsu erlernen, die Kunst des Giftes. Wenn du dein Opfer mit einem Dolch erstichst, gehst du ein hohes Risiko ein und hinterlässt viele Spuren. Der Tod durch Gift ist lautlos, schwer nachzuweisen und bei richtiger Anwendung sicher.«
Der Skorpion hatte den Hals der Schülerin erreicht und war in das einladende Dunkel ihrer langen, schwarzen Haare gekrochen. Die Schülerin drehte den Kopf weg und atmete schnell und flach. Der Ninja nahm keine Notiz davon.
»Ich werde dir zeigen, wie man aus verschiedenen Pflanzen und Tieren Gifte gewinnt, welches Gift man für Waffen benützt und welches man in das Essen oder Trinken des Opfers mischt.« Er strich mit den Fingern über einen Käfig, in dem eine Schlange gefangen war. Sogleich schnellte das Tier gegen die Stäbe, um ihn zu beißen.
»Außerdem musst du dich gegen die Gifte abhärten, sonst bringst du dich versehentlich noch selbst um, und damit wäre nichts gewonnen.«
Die Schülerin hob den Arm, um den in ihrer Halsbeuge sitzenden Skorpion abzustreifen. Der Ninja schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Für viele Gifte gibt es ein Gegengift. Ich werde dir zeigen, wie man sie mischt. Gegen andere Gifte kann man sich schützen, indem man über einen längeren Zeitraum jeweils winzige Mengen davon zu sich nimmt, bis der Körper natürliche Abwehrkräfte entwickelt. Gegen einige Gifte gibt es allerdings keine Hilfe.«
Er zeigte auf einen kleinen, blaugeringelten Kraken von der Größe einer Säuglingsfaust, der in einer mit Wasser gefüllten Wanne schwamm. »So schön dieses Tier aussieht, sein Gift ist so stark, dass es einen erwachsenen Menschen in wenigen Minuten tötet. Da es geschmacklos ist, empfehle ich seine Verwendung in Getränken wie Reiswein oder grünem Tee.«
Die Schülerin konnte den Skorpion an ihrem Hals nicht länger ertragen und schlug mit der Hand danach. Der Skorpion fiel aus ihren Haaren und bohrte ihr seinen Stachel in die Hand. Die Schülerin schrie. Das Fleisch um die Wunde schwoll sofort an.
Stechende Schmerzen fuhren durch ihren Arm. »Hilfe …«, stöhnte sie und krümmte sich.
Der Ninja betrachtete sie mitleidslos.
»An dem stirbst du nicht«, murmelte er schließlich. Er packte den Skorpion am Schwanz und ließ ihn in den Kasten fallen. »Der ist alt und groß. In Acht nehmen muss man sich nur vor den kleinen Weibchen.«
Die Schülerin brach bewusstlos zusammen.
1
Astragaloi
»Du betrügst!«, rief das Mädchen.
»Tu ich nicht!«, protestierte Jack. Er und seine Schwester knieten im Hintergarten des Hauses ihrer Eltern.
»Tust du doch! Du musst klatschen, bevor du die Knochen nimmst.«
Jack schwieg, denn Jess fiel offenbar keinen Moment auf seine Unschuldsmiene herein. Sosehr er seine Schwester liebte, was die Spielregeln betraf, verstand sie keinen Spaß. Jess war ein schmächtiges, siebenjähriges Mädchen mit hellblauen Augen und fahlblonden Haaren und normalerweise sehr umgänglich. Wenn sie aber Astragaloi spielten, war sie so streng und unnachgiebig wie ihre Mutter bei den Haushaltspflichten.
Jack las die fünf weißen Schafknöchelchen vom Boden
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