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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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die kontrapunktische Musik, die perspektivische Malerei uns und uns allein das Recht geben, setzt über die Anlagen des Systematikers weit hinausgehend das Auge eines Künstlers voraus, und zwar das eines Künstlers, der die sinnliche und greifbare Welt ringsum sich in eine tiefe Unendlichkeit geheimnisvoller Beziehungen vollkommen auflösen fühlt. So fühlte Dante, so Goethe. Ein Jahrtausend organischer Kulturgeschichte als Einheit, als
Person
aus dem Gewebe des Weltgeschehens herauszuheben und in ihren innersten seelischen Bedingungen zu begreifen, ist das Ziel. Wie man die Züge eines Bildnisses von Rembrandt oder einer Cäsarenbüste durchdringt, so die großen, schicksalsvollen Züge im Antlitz einer
Kultur
, als der menschlichen Individualität höchster Ordnung, anzuschauen und zu verstehen, ist die neue Kunst. Wie es in einem Dichter, einem Propheten, einem Denker, einem Eroberer aussieht, das hat man schon zu wissen versucht, aber in die antike, ägyptische, arabische Seele überhaupt einzugehen, um sie mit ihrem gesamten Ausdruck in typischen Menschen und Lagen, in Religion und Staat, Stil und Tendenz, Denken und Sitte mitzuerleben, das ist eine neue Art »Lebenserfahrung«. Jede Epoche, jede große Gestalt, jede Gottheit, Städte, Sprachen, Nationen, Künste, alles was je da war und da sein wird, ist ein physiognomischer Zug von höchster Symbolik, den ein
Menschenkenner
in einem ganz neuen Sinne des Wortes zu deuten hat. Dichtungen und Schlachten, Feiern der Isis und Kybele und katholische Messen, Hochofenwerke und Gladiatorenspiele, Derwische und Darwinisten, Eisenbahnen und Römerstraßen, »Fortschritt« und Nirwana, Zeitungen, Sklavenmassen, Geld, Maschinen, alles ist in gleicher Weise Zeichen und Symbol im Weltbilde des Vergangenen, das eine Seele mit Bedeutung sich vergegenwärtigt. »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis«. Hier liegen Lösungen und Fernblicke verborgen, welche noch nicht einmal geahnt worden sind. Dunkle Fragen, die den tiefsten aller menschlichen Urgefühle, aller Angst und Sehnsucht zugrunde liegen und vom Verstehenwollen in die Probleme der Zeit, der Notwendigkeit, des Raumes, der Liebe, des Todes, der ersten Ursachen verkleidet worden sind, werden aufgehellt. Es gibt eine ungeheure Musik der Sphären, die
gehört
sein will, die einige unsrer tiefsten Geister hören
werden
. Die Physiognomik des Weltgeschehens wird zur
letzten faustischen Philosophie
.
     

Drittes Kapitel: Makrokosmos
I. Die Symbolik des Weltbildes und das Raumproblem
1
    Und so erweitert sich der Gedanke einer Weltgeschichte physiognomischer Art zur
Idee einer allumfassenden Symbolik
. Die Geschichtsforschung in dem hier geforderten Sinne hat nur das Bild des einst Lebendigen und nun Vergangenen zu prüfen und dessen innere Form und Logik festzustellen. Der Schicksalsgedanke ist der letzte, bis zu dem sie vordringen kann. Indessen diese Forschung, so neu und umfassend sie in der hier angegebenen Richtung ist, kann dennoch nur Fragment und Grundlage einer noch umfassenderen Betrachtung sein. Ihr zur Seite steht eine Naturforschung, ebenso fragmentarisch und eingeschränkt in ihrem kausalen Beziehungskreise. Aber weder die tragische noch die technische »Bewegung« – wenn man so sagen darf, um die Untergründe von Erlebtem und Erkanntem zu unterscheiden – erschöpfen das Lebendige selbst. Wir erleben und erkennen, solange wir wach sind, aber wir leben auch, wenn Geist und Sinne schlafen. Mag die Nacht alle Augen schließen, das Blut schläft nicht. Wir sind bewegt im Bewegten – so suchen wir das Unaussprechliche, wovon wir in tiefen Stunden eine innere Gewißheit besitzen, durch ein Grundwort des Naturerkennens anschaulich zu machen; aber für wachende Wesen erscheint das Hier und Dort als unaufhebbares Zweierlei. Jede eigne Regung besitzt Ausdruck, jede fremde macht Eindruck, und so hat alles, dessen wir uns bewußt sind, in welcher Gestalt auch immer, als Seele und Welt, Leben und Wirklichkeit, Geschichte und Natur, Gesetz, Gefühl, Schicksal, Gott, Zukunft und Vergangenheit, Gegenwart und Ewigkeit, für uns noch einen tiefsten Sinn, und das einzige und äußerste Mittel, dieses Unfaßliche faßlich zu machen, liegt in einer Art von Metaphysik, für die
alles
, es sei, was es wolle, die Bedeutung eines
Symbols
besitzt.
    Symbole sind sinnliche Zeichen, letzte, unteilbare und vor allem ungewollte Eindrücke von bestimmter Bedeutung. Ein Symbol ist ein Zug der Wirklichkeit, der für sinnenwache

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