Der Untergang des Abendlandes
antiker Tempelbezirke und Marktplätze gegenüber, körperlose Reiche von Tönen, Tonräume, Tonmeere; das Orchester brandet, schlägt Wellen, verebbt; es malt Fernen, Lichter, Schatten, Stürme, ziehende Wolken, Blitze, Farben von vollkommener Jenseitigkeit; man denke an die Landschaften der Instrumentation Glucks und Beethovens. »Gleichzeitig« mit dem Kanon Polyklets, jener Schrift, in welcher der große Bildhauer die strengen Regeln des Aufbaus menschlicher Körper niederlegte, die bis auf Lysipp herab herrschend geblieben sind, vollendete sich um 1740 durch Stamitz der strenge Kanon des vierteiligen Sonatensatzes, der erst in Beethovens späten Quartetten und Sinfonien sich lockert, bis endlich in der einsamen, vollkommen »infinitesimalen« Tonwelt der Tristanmusik alle irdische Greifbarkeit sich löst. Dies Urgefühl einer
Lösung,
Erlösung, Auflösung der Seele im Unendlichen, einer Befreiung von aller stofflichen Schwere, das die höchsten Momente unsrer Musik stets wachrufen, erlöst auch den Tiefendrang der faustischen Seele, während die Wirkung antiker Kunstwerke bindend, einschränkend, das Körpergefühl festigend ist und das Auge von der Ferne zu einer schön gesättigten Nähe und Ruhe zieht.
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So hat es jede der großen Kulturen zu einer geheimen Sprache des Weltgefühls gebracht, die nur dem ganz vernehmlich ist, dessen Seele dieser Kultur angehört. Denn täuschen wir uns nicht. Wir können vielleicht in der antiken Seele ein wenig lesen, weil deren Formensprache fast die Umkehrung der abendländischen ist; von der sehr schwierigen Frage, in welchem Grade das möglich und bis jetzt erreicht worden ist, hat jede Kritik der Renaissance auszugehen. Aber wenn wir hören, daß wahrscheinlich – das Umdenken so fremdartiger Daseinsäußerungen bleibt unter allen Umständen ein zweifelhafter Versuch – die Inder Zahlen konzipiert hatten, die nach unsren Begriffen weder Wert noch Größe noch Beziehungsqualität besaßen, die erst durch ihre Stellung zu positiven, negativen, großen, kleinen Einheiten wurden, so müssen wir zugeben, daß uns die Möglichkeit fehlt, das exakt nachzuerleben, was seelisch dieser Zahlenart zugrunde liegt. 3 ist für uns immer
etwas
, sei es positiv oder negativ; für die Griechen war es unbedingt eine Größe, + 3; für die Inder bezeichnet es aber eine wesenlose Möglichkeit, für die das Wort »etwas«
noch nicht gilt
, jenseits von
Sein und Nichtsein
, die beide erst hinzutretende
Eigenschaften
sind. +3, – 3, 1/3 sind also emanierende Wirklichkeiten geringeren Grades, die in der rätselhaften Substanz (3) in einer uns völlig verschlossenen Art ruhen. Es gehört eine brahmanische Seele dazu, diese Zahlen als selbstverständlich, als ideale Abzeichen einer in sich vollkommenen Weltform zu empfinden; uns sind sie so unverständlich wie das brahmanische Nirwana, das jenseits von Leben
und
Tod, Schlaf
und
Wachsein, Leiden, Mitleiden und Leidlosigkeit dennoch etwas Wirkliches ist, für das uns selbst die sprachlichen Mittel fehlen. Nur aus diesem Seelentum konnte die großartige Konzeption des
Nichts
als einer
echten Zahl
, der
Null
, hervorgehen, und zwar als indische Null, für die wesenhaft und wesenlos gleich äußerliche Bezeichnungen sind. [Diese Null, die vielleicht eine Ahnung von der
indischen
Idee des Ausgedehnten, von jener in den Upanishaden behandelten, unserem Raumbewußtsein völlig fremden Räumlichkeit der Welt gibt, fehlte selbstverständlich der Antike. Sie wurde auf dem Weg über die arabische Mathematik, gänzlich umgedeutet, erst 1544 durch Stifel bei uns eingeführt, und zwar, was ihr Wesen grundlegend veränderte, als die Mitte zwischen + 1 und - 1, als Schnitt im linearen Zahlenkontinuum; das heißt, sie wurde in einem gänzlich unindischen
Beziehungssinne
von der abendländischen Zahlenwelt assimiliert.]
Wenn arabische Denker der reifsten Zeit – und es waren Köpfe ersten Ranges wie Alfarabi und Alkabi darunter – in ihrer Polemik gegen die Seinslehre des Aristoteles bewiesen, daß der Körper als solcher den Raum zur Existenz nicht notwendig voraussetze, und das Wesen dieses Raumes, der arabischen Art der Ausgedehntheit also, aus dem Merkmal des »sich an einer Stelle Befindens« herleiten, so beweist das nicht, daß sie gegen Aristoteles und Kant im Irrtum waren oder – wie wir das gern bezeichnen, was nicht in unsre Köpfe eingeht – daß sie unklar dachten, sondern daß der arabische Geist andere Weltkategorien besaß. Sie hätten Kant
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