Der Untergang des Abendlandes
alle tektonischen Linien verhüllt, kleine Öffnungen im höchsten Gewölbe, durch die ein ungewisses Licht hereinfällt, das die Wandung noch unerbittlicher betont – so stehen die Meisterwerke dieser Kunst, San Vitale in Ravenna, die Hagia Sophia in Byzanz, der Felsendom in Jerusalem vor uns. Statt der ägyptischen Reliefs mit ihrer reinen Flächenbehandlung, die jede in die seitliche Tiefe weisende Verkürzung peinlich meidet, statt der den äußeren Weltraum einbeziehenden Glasgemälde der Dome verkleiden hier flimmernde Mosaiken und Arabesken, in denen der Goldton vorherrscht, alle Wände und versenken die Höhle in einen märchenhaften ungewissen Schein, der in aller maurischen Kunst für den nordischen Menschen immer so verlockend geblieben ist.
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So stammt die Erscheinung des
großen Stils
also aus dem Wesen des Makrokosmos, aus dem Ursymbol einer
großen
Kultur. Man wird, wenn man den Gehalt des Wortes zu würdigen weiß, das nicht einen Formbestand, sondern eine
Formgeschichte
bezeichnet, die fragmentarischen und chaotischen Kunstäußerungen des Urmenschentums nicht zu der umfassenden Bestimmtheit eines solchen Stils mit seiner Entwicklung über Jahrhunderte hin in Beziehung bringen. Erst die als Einheit nach Ausdruck und Bedeutung wirkende Kunst der großen Kulturen – und nun nicht mehr die Kunst allein – hat Stil.
Zur organischen Geschichte eines Stils gehört ein Vorher, Außerhalb und Nachher. Die »Stiertafel« aus der 1. ägyptischen Dynastie ist noch nicht »ägyptisch«. [H. Schäfer, Von ägyptischer Kunst I, S. 15 f.] Erst mit der 3. Dynastie erhalten die Werke, und zwar plötzlich und sehr bestimmt einen Stil. Ebenso steht die Karolingerkunst »zwischen den Stilen«. Man bemerkt ein Tasten, ein Ausprobieren verschiedener Formen, aber nichts von innerlich notwendigem Ausdruck. Der Schöpfer des Aachener Münsters »denkt sicher, baut sicher, aber er fühlt nicht sicher«. [Frankl, Baukunst des Mittelalters (1918), S. 16 ff.] Die Marienkirche auf der Feste Würzburg (um 700) hat ihr Seitenstück in Saloniki (St. Georg); die Kirche von Germigny des Près (um 800) ist mit Kuppeln und Hufeisenbögen fast eine Moschee. 850-950 besteht für das ganze Abendland eine Lücke. Ebenso steht die russische Kunst noch heute »zwischen den Stilen«. Auf den primitiven, von Norwegen bis zur Mandschurei verbreiteten Holzbau mit steilem, achteckigem Zeltdach dringen über die Donau byzantinische, über den Kaukasus armenisch-persische Motive ein. Eine Wahlverwandtschaft zwischen der russischen und magischen Seele ist wohl zu fühlen, aber das Ursymbol des Russentums,
die unendliche Ebene,
[Vgl. Bd. II, S. 921 Anm. Der Mangel jeder Vertikaltendenz im russ. Lebensgefühl erscheint auch in der Sagengestalt des Jlja von Murom (Bd. II, S. 788). Der Russe hat nicht das geringste Verhältnis zu einem
Vater
gott. Sein Ethos ist nicht Sohnes-, sondern reine Bruderliebe, die allseitig in die Menschenebene ausstrahlt. Auch Christus wird als Bruder empfunden. Das faustische, ganz vertikale Streben nach persönlicher Vervollkommnung ist dem echten Russen eitel und unverständlich. Auch die russischen Ideen von Staat und Eigentum entbehren jeder Vertikaltendenz.] findet wie religiös, so auch architektonisch noch keinen sicheren Ausdruck. Das Kirchendach hebt sich hügelartig kaum von der Landschaft ab, und auf ihm sitzen die Zeltdachspitzen mit den »Kokoschniks«, welche das Aufstreben verschleiern und aufheben sollen. Sie steigen nicht auf wie gotische Türme und decken nicht zu wie die Kuppeln der Moschee, sondern sie »sitzen« und betonen damit das Horizontale des Baus, der
lediglich von außen
aufgefaßt sein will. Als der Synod um 1670 die Zeltdächer verbot und die orthodoxen Zwiebelkuppeln vorschrieb, wurden die schweren Kuppeln auf schlanke Zylinder aufgesetzt, die in beliebiger Zahl [Auf der Friedhofskirche in Kishi sind es 22.] auf der Dachebene »sitzen«. [J. Grabar, Gesch. der russ. Kunst (1911, russ.) I-III. A. Eliasberg, Russ. Baukunst (1922), Einleitung.] Das ist noch kein Stil, aber das Versprechen eines Stils, der erst mit der eigentlich russischen Religion erwachen wird.
Das Erwachen erfolgte im faustischen Abendlande kurz vor 1000. Mit einem Schlage ist der romanische Stil fertig. An Stelle der verschwimmenden Raumgliederung mit unsicherem Grundriß tritt plötzlich eine straffe Dynamik des Raumes. Von Anfang an sind Außen- und Innenbau in ein festes Verhältnis gesetzt, so daß die Wand von
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