Der Untergang des Abendlandes
der Formensprache durchdrungen wird wie in keiner andern Kultur; von Anfang an ist die Bedeutung der Fenster und der Türme bestimmt. Die Idee der Form war unwiderruflich gegeben, nur die Entwicklung stand noch bevor.
Mit einem schöpferischen Akt von gleicher Unbewußtheit und symbolischer Wucht beginnt der ägyptische Stil. Das Ursymbol des Weges ist plötzlich ins Leben getreten, mit dem Beginn der 4. Dynastie (2550 v. Chr.). Das weltbildende Tiefenerlebnis dieser Seele empfängt seinen Gehalt vom Richtungsfaktor selbst: die Tiefe des Raumes als erstarrte Zeit, die Ferne, der Tod, das Schicksal selbst beherrschen den Ausdruck; die bloß sinnlichen Dimensionen der Länge und Breite werden zur begleitenden Fläche, die den Weg des Schicksals einengt und vorschreibt. Das ägyptische Flachrelief, auf Nahsicht berechnet und in seiner reihenweisen Anordnung den Betrachter zwingend, in vorgeschriebener Richtung die Wandflächen abzuschreiten, taucht ebenso plötzlich gegen Beginn der 5. Dynastie auf. [Die Klarheit in der Anlage der ägyptischen und abendländischen Geschichte gestattet einen bis ins einzelne gehenden Vergleich, der wohl einer kunsthistorischen Untersuchung wert wäre. Die 4. Dynastie des strengen Pyramidenstils (2550-2450, Cheops, Chephren) entspricht der Romanik (980-1100); die 5. Dynastie (2450-2320, Sahu-rê) der Frühgotik (1100-1230); die 6. Dynastie, die Blütezeit der archaischen Bildniskunst (2320-2190, Phiops I. u. II.) der Hochgotik (1230-1400). (Siehe die Bemerkung auf Tafel I nach S. 70. H. K.)] Die noch späteren Reihen von Sphinxen und Statuen, die Felsen- und Terrassentempel verstärken beständig die Tendenz auf die einzige Ferne, welche die Welt des ägyptischen Menschen kennt, das Grab, den Tod. Man bemerke wohl, wie schon die Säulenreihen der Frühzeit nach Durchmesser und Abstand der mächtigen Schäfte genau so gegliedert sind, daß sie jeden seitlichen Durchblick
verdecken.
Das hat sich in keiner andern Architektur wiederholt.
Die Größe dieses Stils erscheint uns starr und unveränderlich. Er steht allerdings jenseits der Leidenschaft, die noch sucht und fürchtet und untergeordneten Einzelzügen damit eine rastlose persönliche Bewegtheit im Lauf der Jahrhunderte erteilt; aber sicherlich wäre dem Ägypter der faustische Stil – er bildet von der frühesten Romanik bis zum Rokoko und Empire ebenfalls eine Einheit – in seiner Unruhe und seinem ständigen Suchen nach einem Etwas viel gleichförmiger erschienen, als wir uns vorstellen können. Vergessen wir nicht, daß aus dem hier vorausgesetzten Begriff des Stils folgt, daß Romanik, Gotik, Renaissance, Barock, Rokoko nur Stufen
ein und desselben
Stils sind, an dem wir selbst naturgemäß vor allem das Wechselnde, das Auge anders gearteter Menschen das Bleibende bemerken. In der Tat beweisen zahllose Umbauten romanischer Werke im Barock-, spätgotischer im Rokokostil, die durch nichts auffallen, die innere Einheit der nordischen Renaissance und ebenso die der Bauernkunst, in welcher Gotik und Barock völlig identisch geworden ist, die Straßen alter Städte, deren Giebel und Fassaden aller Stilarten einen reinen Einklang bilden, und die Unmöglichkeit, Romanik und Gotik, Renaissance und Barock, Barock und Rokoko in einzelnen Fällen überhaupt zu unterscheiden, daß die »Familienähnlichkeit« dieser Abschnitte viel größer ist, als sie den Angehörigen erscheint.
Der ägyptische Stil ist rein
architektonisch
bis zum Erlöschen dieser Seele. Er ist der einzige, in welchem neben der Architektur ein verzierendes Ornament vollkommen fehlt. Er gestattet keine Abschweifung zu unterhaltenden Künsten, keine Tafelmalerei, keine Büste, keine weltliche Musik. In der Antike geht mit der Ionik der Schwerpunkt der Stilbildung von der Architektur zu einer von ihr unabhängigen Plastik über; im Barock geht er hinüber zur Musik, deren Formensprache ihrerseits die gesamte Baukunst des 18. Jahrhunderts beherrscht; im Arabertum löst seit Justinian und dem Perserkönig Chosru Nuschirwan die Arabeske alle Formen der Architektur, Malerei und Plastik zu Stileindrücken auf, die wir heute als kunstgewerblich bezeichnen könnten. In Ägypten bleibt die Herrschaft der Architektur unangefochten. Sie mildert lediglich ihre Sprache. In den Hallen der Pyramidentempel der 4. Dynastie (Pyramide des Chephren) stehen schmucklose, scharfkantige Pfeiler. In den Bauten der 5. Dynastie (Pyramide des Sahu-rê) erscheint die
Pflanzensäule
. Steingewordene
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