Der Untergang des Abendlandes
Franziskaner und Dominikaner, Dante, Thomas bis ins Innerste erschüttert und einen Weltblick geweckt, der langsam von dem ganzen Geschichtsdenken unserer Kultur Besitz ergriff. Lessing, der seine Zeit im Hinblick auf die Antike manchmal geradezu als Nachwelt [Der Ausdruck »Die Alten« kommt schon, dualistisch gemeint, in der Isagoge des Porphyrius (um 300 n. Chr.) vor.] bezeichnet, hat den Gedanken für seine »Erziehung des Menschengeschlechts« (mit den Stufen des Kindes, Jünglings und Mannes) aus den Lehren der Mystiker des 14. Jahrhunderts übernommen, und Ibsen, der ihn in seinem Drama »Kaiser und Galiläer« (wo das gnostische Weltdenken in der Gestalt des Zauberers Maximos unmittelbar hineinragt) gründlich behandelte, ist in seiner bekannten Stockholmer Rede von 1887 keinen Schritt darüber hinausgekommen. Augenscheinlich ist es eine Forderung des westeuropäischen Selbstgefühls, mit der eignen Erscheinung eine Art Abschluß zu statuieren.
Aber die Schöpfung des Abtes von Floris war ein mystischer Blick in die Geheimnisse der göttlichen Weltordnung. Sie mußte jeden Sinn verlieren, sobald sie verstandesmäßig gefaßt und zur Voraussetzung
wissenschaftlichen
Denkens gemacht wurde. Und das ist in immer steigendem Maße seit dem 17. Jahrhundert geschehen. Aber es ist eine völlig unhaltbare Methode, Weltgeschichte zu deuten, wenn man seiner politischen, religiösen oder sozialen Überzeugung die Zügel schießen und den drei Phasen, an denen man nicht zu rütteln wagt, eine Richtung angedeihen läßt, die genau dem eignen Standort zuführt und, je nachdem, die Herrschaft des Verstandes, die Humanität, das Glück der Meisten, die wirtschaftliche Evolution, die Aufklärung, die Freiheit der Völker, die Unterwerfung der Natur, den Weltfrieden und dergleichen als absoluten Maßstab an Jahrtausende anlegt, von denen man beweist, daß sie das Richtige nicht begriffen oder nicht erreicht haben, während sie in Wirklichkeit nur etwas anderes wollten als wir. »Es kommt offenbar im Leben aufs Leben und nicht auf ein Resultat desselben an« – das ist ein Wort Goethes, das man allen törichten Versuchen, das Geheimnis der historischen Form durch ein
Programm
zu enträtseln, entgegenstellen sollte.
Das gleiche Bild wird von den Historikern jeder einzelnen Kunst und Wissenschaft, Nationalökonomie und Philosophie nicht zu vergessen, gezeichnet. Da sehen wir »die« Malerei von den Ägyptern (oder den Höhlenmenschen) bis zu den Impressionisten, »die« Musik vom blinden Sänger Homers bis nach Bayreuth, »die« Gesellschaftsordnung von den Pfahlbaubewohnern bis zum Sozialismus in linienhaftem Aufstieg begriffen, dem irgend eine gleichbleibende Tendenz zugrunde gelegt wird, ohne daß man die Möglichkeit ins Auge faßt, daß Künste eine gemessene Lebensdauer besitzen, daß sie an eine Landschaft und eine bestimmte Art Mensch als deren Ausdruck gebunden sind, daß also diese Gesamtgeschichten lediglich die äußerliche Summierung einer Anzahl von Einzelentwicklungen, von Sonderkünsten sind, die nichts als den Namen und einiges von der handwerklichen Technik gemein haben.
Von jedem Organismus wissen wir, daß Tempo, Gestalt und Dauer seines Lebens und jeder einzelnen Lebensäußerung
durch die Eigenschaften
der Art, zu welcher er gehört, bestimmt sind. Niemand wird von einer tausendjährigen Eiche vermuten, daß sie eben jetzt im Begriff ist, mit dem eigentlichen Lauf ihrer Entwicklung zu beginnen. Niemand erwartet von einer Raupe, die er täglich wachsen sieht, daß sie möglicherweise ein paar Jahre damit fortfährt. Hier hat jeder mit unbedingter Gewißheit das Gefühl einer
Grenze
, das mit einem Gefühl für die innere Form identisch ist. Der Geschichte des höhern Menschentums gegenüber aber herrscht ein zügelloser, alle historische und also organische
Erfahrung
verachtender Optimismus in bezug auf den Gang der Zukunft, so daß jedermann im zufällig Gegenwärtigen die »Ansätze« zu einer ganz besonders hervorragenden linienhaften »Weiterentwicklung« feststellt, nicht weil sie wissenschaftlich bewiesen ist, sondern weil er sie wünscht. Hier wird mit schrankenlosen Möglichkeiten – nie mit einem natürlichen Ende – gerechnet und aus der Lage jedes Augenblicks heraus eine völlig naive Konstruktion der Fortsetzung entworfen.
Aber »die Menschheit« hat kein Ziel, keine Idee, keinen Plan, so wenig wie die Gattung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat. »Die Menschheit« ist ein
Weitere Kostenlose Bücher