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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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genommen, nie hinausgegangen und die andern Denker seiner Zeit so wenig wie er.
    Aber in welcher Beziehung steht denn sein Begriff des Dionysischen zum Innenleben der hochzivilisierten Chinesen aus der Zeit des Konfuzius oder eines modernen Amerikaners? Was bedeutet der Typus des Übermenschen für die Welt des Islam? Oder was sollen die Begriffe Natur und Geist, heidnisch und christlich, antik und modern als gestaltende Antithese im Seelentum des Inders und Russen bedeuten? Was hat Tolstoi, der aus seiner tiefsten Menschlichkeit heraus die ganze Ideenwelt des Westens als etwas Fremdes und Fernes ablehnte, mit dem »Mittelalter«, mit Dante, mit Luther, was hat ein Japaner mit dem Parsifal und dem Zarathustra, was ein Inder mit Sophokles zu schaffen? Und ist die Gedankenwelt Schopenhauers, Comtes, Feuerbachs, Hebbels, Strindbergs etwa weiträumiger? Ist ihre gesamte Psychologie trotz aller Absichten auf Weltgeltung nicht von rein abendländischer Bedeutung? Wie komisch wirken Ibsens Frauenprobleme, die ebenfalls mit dem Anspruch auf die Aufmerksamkeit der ganzen »Menschheit« auftreten, wenn man an Stelle der berühmten Nora, einer nordwesteuropäischen Großstadtdame, deren Gesichtskreis etwa einer Mietwohnung von 2000 bis 6000 Mark und einer protestantischen Erziehung entspricht, Cäsars Frau, Madame de Sévigné, eine Japanerin oder eine Tiroler Bäuerin setzt? Aber Ibsen selbst besitzt den Gesichtskreis der großstädtischen Mittelklasse von gestern und heute. Seine Konflikte, deren seelische Voraussetzungen etwa seit 1850 vorhanden sind und 1950 kaum überdauern werden, sind weder die der großen Welt noch die der unteren Masse, geschweige denn die von Städten mit nichteuropäischer Bevölkerung.
    Alles das sind episodische und örtliche, meist sogar auf die augenblickliche Intelligenz der Großstädte von westeuropäischem Typus beschränkte, nichts weniger als welthistorische und »ewige« Werte, und wenn sie der Generation Ibsens und Nietzsches noch so wesentlich sind, so heißt es eben doch den Sinn des Wortes Weltgeschichte – die keine Auswahl, sondern eine Totalität darstellt – mißverstehen, wenn man die außerhalb des modernen Interesses liegenden Faktoren ihnen unterordnet, sie unterschätzt oder übersieht. Und das ist in einem ungewöhnlich hohen Grade der Fall. Was im Abendlande bisher über die Probleme des Raumes, der Zeit, der Bewegung, der Zahl, des Willens, der Ehe, des Eigentums, des Tragischen, der Wissenschaft gesagt und gedacht worden ist, blieb eng und zweifelhaft, weil man immer darauf aus war,
die
Lösung der Frage zu finden, statt einzusehen, daß zu vielen Fragenden viele Antworten gehören, daß jede philosophische Frage nur der verhüllte Wunsch ist, eine bestimmte Antwort zu erhalten, die in der Frage schon beschlossen liegt, daß man die großen Fragen einer Zeit gar nicht vergänglich genug fassen kann und daß demnach eine
Gruppe historisch bedingter Lösungen
angenommen werden muß, deren
Übersicht
erst – unter Ausschaltung aller eigenen Wertmaßstäbe – die letzten Geheimnisse aufschließt. Für den echten Menschenkenner gibt es keine absolut richtigen oder falschen Standpunkte. Es genügt nicht, angesichts so schwerer Probleme wie dem der Zeit oder der Ehe die persönliche Erfahrung, die innere Stimme, die Vernunft, die Meinung der Vorgänger oder Zeitgenossen zu befragen. So erfährt man, was für den Frager selbst und seine Zeit wahr ist, aber das ist nicht alles. Die Erscheinung andrer Kulturen redet eine andre Sprache. Für andere Menschen gibt es andere Wahrheiten. Für den Denker sind sie alle gültig oder keine.
    Man begreift, welcher Erweiterung und Vertiefung die abendländische Weltkritik fähig ist und was alles über den harmlosen Relativismus Nietzsches und seiner Generation hinaus in den Kreis der Betrachtung gezogen, welche Feinheit des Formgefühls, welcher Grad von Psychologie, welche Entsagung und Unabhängigkeit von praktischen Interessen, welche Unumschränktheit des Horizonts erreicht werden muß, bevor man sagen darf, man habe die Weltgeschichte, die
Welt als Geschichte,
verstanden.
9
    Diesem allem, den willkürlichen, engen, von außen gekommenen, von eigenen Wünschen diktierten, der Historie aufgezwungenen Formen, stelle ich die natürliche, die »kopernikanische« Gestalt des Weltgeschehens entgegen, die ihm in der Tiefe innewohnt und sich nur dem nicht voreingenommenen Blick offenbart.
    Ich erinnere an Goethe. Was er die
lebendige
Natur

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