Der Untergang des Abendlandes
lag«, so liegt es heute nicht mehr dort.] den ruhenden Pol (mathematisch gesprochen, einen singulären Punkt auf einer Kugeloberfläche) – man weiß nicht warum, wenn nicht dies der Grund ist, daß wir, die Urheber dieses Geschichtsbildes, gerade hier zu Hause sind –, um den sich Jahrtausende gewaltigster Geschichte und fernab gelagerte ungeheure Kulturen in aller Bescheidenheit drehen. Das ist ein Planetensystem von höchst eigenartiger Erfindung. Man wählt eine einzelne Landschaft zum natürlichen Mittelpunkt eines historischen Systems. Hier ist die Zentralsonne. Von hier aus erhalten alle Ereignisse der Geschichte ihr wahres Licht. Von hier aus wird ihre Bedeutung
perspektivisch
abgemessen. Aber hier redet in Wirklichkeit die durch keine Skepsis gezügelte Eitelkeit des westeuropäischen Menschen, in dessen Geiste sich dies Phantom »Weltgeschichte« entrollt. Ihr verdankt man die uns längst zur Gewohnheit gewordene ungeheure optische Täuschung, wonach in der Ferne die Geschichte von Jahrtausenden wie die Chinas und Ägyptens episodenhaft zusammenschrumpft, während in der Nähe des eignen Standortes, seit Luther und besonders seit Napoleon, die Jahrzehnte gespensterhaft anschwellen. Wir wissen, daß nur scheinbar eine Wolke um so langsamer wandert, je höher sie steht, und ein Zug durch eine ferne Landschaft nur scheinbar schleicht, aber wir glauben, daß das Tempo der frühen indischen, babylonischen, ägyptischen Geschichte wirklich langsamer war als das unsrer jüngsten Vergangenheit. Und wir finden ihre Substanz dünner, ihre Formen gedämpfter und gestreckter, weil wir nicht gelernt haben, die – innere und äußere – Entfernung in Rechnung zu stellen.
Daß für die Kultur des Abendlandes das Dasein von Athen, Florenz, Paris wichtiger ist als das von Lo-yang und Pataliputra, versteht sich von selbst. Aber darf man solche Wertschätzungen zur Grundlage eines Schemas der Weltgeschichte machen? Dann hätte der chinesische Historiker das Recht, eine Weltgeschichte zu entwerfen, in der die Kreuzzüge und die Renaissance, Cäsar und Friedrich der Große als belanglos mit Stillschweigen übergangen werden. Warum soll,
morphologisch betrachtet
, das 18. Jahrhundert wichtiger sein als eins der sechzig voraufgehenden? Ist es nicht lächerlich, eine »Neuzeit« vom Umfang einiger Jahrhunderte, noch dazu wesentlich in Westeuropa lokalisiert, einem »Altertum« gegenüberzustellen, das ebensoviel Jahrtausende umfaßt und dem die Masse aller vorgriechischen Kulturen ohne den Versuch einer tieferen Gliederung einfach als Anhang zugerechnet wird? Hat man nicht, um das verjährte Schema zu retten, Ägypten und Babylon, deren in sich geschlossene Historien, jede für sich, allein die angebliche »Weltgeschichte« von Karl dem Großen bis zum Weltkriege und weit darüber hinaus aufwiegen, als Vorspiel zur Antike abgetan, die mächtigen Komplexe der indischen und chinesischen Kultur mit einer Miene der Verlegenheit in eine Anmerkung verwiesen und die großen amerikanischen Kulturen, weil ihnen der »Zusammenhang« (womit?) fehlt, überhaupt ignoriert?
Ich nenne dies dem heutigen Westeuropäer geläufige Schema, in dem die hohen Kulturen ihre Bahnen
um uns
als den vermeintlichen Mittelpunkt alles Weltgeschehens ziehen, das
ptolemäische System
der Geschichte und ich betrachte es als die
kopernikanische Entdeckung
im Bereich der Historie, daß in diesem Buche ein System an seine Stelle tritt, in dem Antike und Abendland neben Indien, Babylon, China, Ägypten, der arabischen und mexikanischen Kultur – Einzelwelten des Werdens, die im Gesamtbilde der Geschichte ebenso schwer wiegen, die an Großartigkeit der seelischen Konzeption, an Gewalt des Aufstiegs die Antike vielfach übertreffen – eine in keiner Weise bevorzugte Stellung einnehmen.
7
Das Schema Altertum-Mittelalter-Neuzeit ist in seiner ersten Anlage eine Schöpfung des magischen Weltgefühls, welche zuerst in der persischen und jüdischen Religion seit Kyros Vgl. Bd. II, S. 31 f., 848. hervortrat, in der Lehre des Buches Daniel von den vier Weltaltern eine apokalyptische Fassung erhielt und in den nachchristlichen Religionen des Ostens, vor allem den gnostischen Systemen, Windelband, Gesch. d. Phil. (1900), S. 275 ff. zu einer Weltgeschichte ausgestaltet wurde.
Innerhalb der sehr engen Grenzen, welche die geistige Voraussetzung dieser bedeutenden Konzeption bilden, bestand sie durchaus zu Recht. Hier fällt weder die indische noch selbst die ägyptische
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