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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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zoologischer Begriff oder ein leeres Wort. [»Die Menschheit? Das ist ein Abstraktum. Es hat von jeher nur Menschen gegeben und wird nur Menschen geben« (Goethe zu Luden).] Man lasse dies Phantom aus dem Umkreis der historischen Formprobleme schwinden und man wird einen überraschenden Reichtum
wirklicher
Formen auftauchen sehen. Hier ist eine unermeßliche Fülle, Tiefe und Bewegtheit des Lebendigen, die bis jetzt durch ein Schlagwort, durch ein dürres Schema, durch persönliche »Ideale« verdeckt wurde. Ich sehe statt jenes öden Bildes einer linienförmigen Weltgeschichte, das man nur aufrecht erhält, wenn man vor der überwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schließt, das Schauspiel einer Vielzahl mächtiger Kulturen, die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoße einer mütterlichen Landschaft, an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist, aufblühen, von denen jede ihrem Stoff, dem Menschentum, ihre
eigne
Form aufprägt, von denen jede ihre
eigne
Idee, ihre
eignen
Leidenschaften, ihr
eignes
Leben, Wollen, Fühlen, ihren
eignen
Tod hat. Hier gibt es Farben, Lichter, Bewegungen, die noch kein geistiges Auge entdeckt hat. Es gibt aufblühende und alternde Kulturen, Völker, Sprachen, Wahrheiten, Götter, Landschaften, wie es junge und alte Eichen und Pinien, Blüten, Zweige und Blätter gibt, aber es gibt keine alternde »Menschheit«. Jede Kultur hat ihre neuen Möglichkeiten des Ausdrucks, die erscheinen, reifen, verwelken und nie wiederkehren. Es gibt viele, im tiefsten Wesen völlig voneinander verschiedene Plastiken, Malereien, Mathematiken, Physiken, jede von begrenzter Lebensdauer, jede in sich selbst geschlossen, wie jede Pflanzenart ihre eigenen Blüten und Früchte, ihren eignen Typus von Wachstum und Niedergang hat. Diese Kulturen, Lebewesen höchsten Ranges, wachsen in einer erhabenen Zwecklosigkeit auf wie die Blumen auf dem Felde. Sie gehören, wie Pflanzen und Tiere, der lebendigen Natur Goethes, nicht der toten Natur Newtons an. Ich sehe in der Weltgeschichte das Bild einer ewigen Gestaltung und Umgestaltung, eines wunderbaren Werdens und Vergehens organischer Formen. Der zünftige Historiker aber sieht sie in der Gestalt eines Bandwurms, der unermündlich Epochen »ansetzt«.
    Indessen hat die Reihe »Altertum – Mittelalter – Neuzeit« endlich ihre Wirkung erschöpft. So winkelhaft eng und flach sie als wissenschaftliche Unterlage war, so stellte sie doch die einzige nicht ganz unphilosophische Fassung dar, die wir für die Einordnung unserer Ergebnisse besaßen, und was als Weltgeschichte bisher geordnet wurde, hat ihr einen Rest von Gehalt zu verdanken; aber die Zahl von Jahrhunderten, die durch dies Schema
höchstens
zusammengehalten werden konnte, ist längst erreicht. Das Bild beginnt sich bei rascher Zunahme des historischen Stoffes, namentlich des gänzlich außerhalb dieser Ordnung liegenden, in ein unübersehbares Chaos aufzulösen. Jeder nicht ganz blinde Historiker weiß und fühlt das, und nur um nicht ganz zu versinken, hält er um jeden Preis das einzige ihm bekannte Schema fest. Das Wort Mittelalter, [»Mittelalter« ist die Geschichte
des Gebietes, in welchem die lateinische Kirchen- und Gelehrtensprache herrschte
. Die gewaltigen Schicksale des östlichen Christentums, das lange vor Bonifatius über Turkestan bis nach China und über Saba nach Abessinien vordrang, kamen für diese »Weltgeschichte« nicht in Betracht.] 1667 von Professor Horn in Leyden geprägt, muß heute eine formlose, sich beständig ausdehnende Masse decken, die rein negativ durch das begrenzt wird, was sich unter keinem Vorwand den beiden andern, leidlich geordneten Gruppen zurechnen läßt. Die unsichere Behandlung und Wertung der neupersischen, arabischen und russischen Geschichte sind Beispiele dafür. Vor allem läßt sich der Umstand nicht länger verhehlen, daß diese angebliche Geschichte der Welt sich anfangs tatsächlich auf die Region des östlichen Mittelmeeres und später, seit der Völkerwanderung, einem nur für uns wichtigen und deshalb stark überschätzten Ereignis, das eine rein abendländische Bedeutung besitzt und schon die arabische Kultur nichts angeht, mit einem plötzlichen Wechsel des Schauplatzes auf das mittlere Westeuropa beschränkt. Hegel hatte in aller Naivität erklärt, daß er die Völker, die in sein System der Geschichte nicht paßten, ignorieren werde. Aber das war nur ein ehrliches Eingeständnis von methodischen Voraussetzungen, ohne

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